Zwischen Sitcom und Comedianwelt – Sebastian Baumgarten inszeniert Gogols Tote Seelen

Löcher im System kann man stopfen, man kann sie aber auch ausnutzen. Über Letzteres schrieb Nikolai Gogol einen ganzen Roman: Weil die russische Bürokratie zu Zarenzeiten nicht die schnellste war, blieben Leibeigene auch nach ihrem Ableben noch lange auf der Steuerliste, zum Unwillen der Gutsbesitzer – bis Schlauberger Tschitschikow auf die Idee kommt, sie ihnen abzukaufen, die Besitzer also von der Steuer zu entlasten und seinerseits die „toten Seelen“ auf dem Markt als lebendige Arbeitskräfte gewinnträchtig an den Mann zu bringen. Ein Schelm, wer dabei an die Bankenkrise mit ihren Investmentpaketen und Schrottimmobilien denkt.

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Hanna Plaß, Paul Grill, Wolfgang Michalek, Michael Stiller, Svenja Liesau, Horst Kotterba, Christian Czeremnych. Foto: Bettina Stöß

Regisseur Sebastian Baumgarten, der den 150 Jahre alten und doch so aktuell wirkenden Roman für das Schauspiel Stuttgart eingerichtet hat, entschied sich für ein Plädoyer für die sozial Unterdrückten zu Gogols Zeiten, die billigen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Er lässt Szenen aus dem Film „Agonia“ über die Bühne flimmern, den der russische Regisseur Elem Klimow den russischen Arbeitermassen widmet (und der in Klimows Heimat erst zehn Jahre nach Drehschluss gezeigt werden durfte). Dazu projiziert er Zahlen, die die Misere der Arbeiterklasse unterstreichen. Das Bühnenbild zu seinen „Toten Seelen“ wird beherrscht von einem gigantischen schwarzen Totenschädel, dessen Augenhöhlen immer wieder als Spielräume genutzt werden.

Das freilich ist sein einziger Beitrag zu einer kritischen Deutung von Gogols Roman, der unter anderem als Kritik an der zunehmend materialistisch denkenden russischen Oberschicht interpretiert werden kann. Baumgarten entschied sich nach den eindringlichen Filmbildern zu Beginn dafür, die groteske Seite von Gogols Roman auf die Bühne zu bringen. Gogol war ein Meister der surrealen Überzeichnung. So ließ er in einer Erzählung eine Nase durch St. Petersburg wandern, und auch sein Einfall, mit verstorbenen Arbeitern Geld zu machen, entbehrt nicht einer gewissen Skurrilität. Die Gutsbesitzer, denen sein Held Tschitschikow auf seiner Suche nach toten Seelen begegnet, sind allesamt angesiedelt an der Grenze zwischen realistischem Gesellschaftsporträt und satirischer Überzeichnung. Das ist bei Gogol eine erzählerische Gratwanderung, doch ein Theaterstück ist keine Erzählung. Was der Romancier mit wenigen Worten andeutet und vor dem geistigen Auge des Lesers zum anschaulichen Bild werden lässt, erhält eine ganz andere Realität, wenn es durch Schauspieler in Szene gesetzt wird. Hier jene subtilen Zwischentöne zwischen Realismus und Satire zu treffen, ist nahezu unmöglich. Baumgarten hat das gespürt und versucht, das Erzählerische von Gogols Roman in seine Inszenierung einzubauen. Immer wieder treten Schauspieler in schwarzer Kleidung mit Schreibmaschine bewaffnet auf und rezitieren Gogols Text – freilich viel zu sporadisch, als dass daraus hätte eine gültige Komponente der Inszenierung hätte werden können. So sind die von Gogol subtil gezeichneten Figuren in Stuttgart reine Witzfiguren. Baumgarten schreckt vor keinem Klischee zurück, seine Inszenierung wirkt über weite Strecken wie eine Aneinanderreihung von schlechten Russenwitzen. Wenn dann noch einer von ihnen radebrecht, wie ein des Deutschen nur bedingt mächtiger Russe, entbehrt es jeder Logik, zumal die übrigen Figuren perfektes Deutsch sprechen (bzw. berlinern).

Von dieser Überzeichnung ist auch Tschitschikow nicht ausgenommen. gogol2

Wolfgang Michalek. Foto: Bettina Stöß

Wolfgang Michalek vollbringt zwar wahre Wunder in seiner Gestaltung dieses Seelenkäufers, ist nahezu in jeder Sekunde der stark zwei Stunden dauernden Inszenierung auf der Bühne, doch auch seine subtile Sprachkunst kann diesen Tschitschikow nicht davor bewahren, ähnlich lächerlich zu wirken wie die diversen Vertreter der russischen Gesellschaft.

Man könnte in solchem Schauspielstil einen Rückgriff auf die Commedia dell’arte sehen, hätte sich Baumgarten nicht unablässig Anleihen bei den alles andere als kulturgeschichtlich geadelten Medienerscheinungen unserer Tage genommen. Über weite Strecken inszeniert er sein Stück als Sitcom, bei dem Applaus und Lachen vom Band eingespielt wird; wenn ein Feuerzeug bedient wird, tönt es aus dem Lautsprecher, als sei jemand mit einem Flammenwerfer am Werk. Vor allem scheute er vor keinem Kalauer zurück. Wenn eine Figur in den Badezuber abtaucht und danach sein Gegenüber mit Wasser anspeit – und das gleich mehrmals hintereinander -, kann man es als witzig empfinden, muss es aber nicht; wenn dieselbe Figur, wieder mehrfach – Komik funktioniert nach dem Gesetz der Serie –, das Hinterteil ins heiße Badewasser absenkt und stöhnt: „Ah, das brennt“, dann mag man darin Grund zum Lachen sehen – oder auch nicht.

Dabei beherrscht Baumgarten die ganze Klaviatur der heutzutage von vielen Medien geprägten Theatermaschinerie. Die immer wieder eingeblendeten Alpträume seines Helden sind furios – passen aber nicht zum restlichen Aufführungsstil, und wenn er am Ende seinen Helden – unter Zuhilfenahme von Gogols „Erzählungen eines Wahnsinnigen“ – in den Irrsinn abdriften lässt, dann nimmt er Gogols Idee der „toten Seelen“ jede wie auch immer geartete Aussage. Der Rest ist technisch perfekter Klamauk am Staatstheater.

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