Für Aug und Ohr? Ulrich Rasches szenische Version von Bachs Johannes-Passion an der Oper Stuttgart

Wird eine Passion von Johann Sebastian Bach in der Kirche aufgeführt, wirkt sie anders als im Konzertsaal, was man schon an der Art des Beifalls merkt: In der Kirche nicht selten zunächst verhalten, wenn er nicht völlig ausbleibt, im Konzertsaal je nach Qualität der Aufführung begeistert. Der Applaus nach der Johannes-Passion, wie sie die Oper Stuttgart nun auf die Bühne brachte, war, wie man ihn von eine Opernpremiere her kennt: begeistert, fast frenetisch.

Staatsopernchor Stuttgart. Foto: Matthias Baus

Und so könnte durchaus eine Oper beginnen, eine, die in Kriegszeiten spielt wie Verdis Troubadour. So wie dort vor dem Tutti-Einsatz des Orchesters, also dem eigentlichen Opernbeginn, ein Paukenwirbel Schützendonner in der Ferne andeutet, beginnt auch Rasches Inszenierung mit düsteren Schlagzeugklängen. Wenn dann die ersten Töne von Bachs Passion erklingen, treten Menschen in Not auf: Langsam bahnen sie sich gebeugt ihren Weg durch das Grau der Nebelschwaden. In der Tat malt das lange Orchestervorspiel vor dem ersten Chor eine Welt in Not mit eng geführten Dissonanzen in den Bläsern über einem lastend schweren schreitenden Bass, einem Bass, der über weite Strecken diese Musik prägt.

Rasche sieht die Passion von ihrem Ende her, und von daher ist seine Inszenierung der Anfangssequenz symbolisch aufgeladen. Denn flehen die Menschen zu Beginn Christus um ein Zeichen dafür an, dass er ihr Erlöser ist, haben sie durch seinen Opfertod am Ende die gewünschte Gewissheit offenbar gefunden, wenn sie ihm ihr Preislied darbringen.

Staatsopernchor Stuttgart. Foto: Matthias Baus

Und so ist bei Rasche am Ende der Chor wieder gesanglich vereint und folgt dem Leichnam Christi, symbolisiert durch ein schwarzes Tuch, das allen vorangetragen wird. Damit realisiert Rasche szenisch die Klammer, die bei Bach Eingangs- und Schlusschor andeuten.

Denn dazwischen hat Rasche den Chor weitgehend in kleine Gruppen aufgeteilt. Damit folgt er ganz dem Inhalt der Passion, denn da teilen sich die Menschen in die unterschiedlichsten Gruppen auf: in Anhänger Jesu und Gegner, in römische Besatzer und Kriegsknechte. Und so tritt denn auch der Chor bei Rasche in kleinen Gruppen, manchmal fast solistisch besetzt auf, und der Staatsopernchor kann gerade in diesen transparenten Teilen zeigen, was für ein grandioser Klangkörper er ist. Szenisch macht Rasche diese Gruppierungen nicht selten durch Leuchttafeln deutlich, die sich wie Trennwände auf die Bühne herablassen.

Rasche hat Text und Musik der Johannes-Passion genau studiert und zeigt mit Gesten die jeweiligen Sinnzusammenhänge auf. Das geht bis in Details. Ist die Rede von Christi blutgefärbtem Rücken, blendet er ein schwarzweißes Video ein, in dem sich eine Hand zaghaft ehrfurchtsvoll einem nackten Rücken nähert, ohne ihn jedoch zu berühren. Ist die Rede von „freudigen Schritten“ sind auch die Gesten der Sängerin leicht, fast beschwingt.

Von Handlung freilich ist in Rasches Version nur bedingt zu sprechen. Er reduziert sie auf kleine Andeutungen. So tragen die Gegner Christi schwarze Kleider, die Anhänger weiße wie auch Christus selbst, und Pilatus, der sich nicht so recht entscheiden kann, trägt grau. Und die Sänger der wenigen „Rollen“ in dieser Passion charakterisieren sie grandios. Andreas Wolf gelingt als Pilatus die Gratwanderung eines auf der einen Seite von seinem politischen Amt überzeugten, andererseits an seinem Tun zweifelnden Mannes. Shigeo Ishino gestaltet Jesus – faszinierend wie in allen seinen bisherigen Rollen – als den anderen überlegene Figur, die genau weiß, welches Schicksal ihr vorausbestimmt ist und welche ihr dadurch zukommt – ein Leidender, der zugleich weiß, dass sein Leiden einen Sinn hat.

Doch von Szenen, in denen etwas geschieht, kann nicht die Rede sein – und das wirft die Frage auf, was Rasche denn eigentlich auf die Bühne gebracht hat. Was an Gestik und Figurenkonstellation zu sehen ist, hat meist den Charakter symbolischer Andeutung, und auch da hält sich Rasche zurück. Seine szenische Version von Bachs Passion überlässt es dem Betrachter, Deutungen zu entwickeln. Sind die drei Leuchttafeln, die sich zum Golgathageschehen von oben herabsenken, Hinweise auf die drei Kreuze oder auf die Dreifaltigkeit, sind die Anhänger Jesu die einzigen, die fasziniert sind von seinen Worten, oder gibt es durchaus auch Faszination auf der Gegenseite?

Staatsopernchor Stuttgart. Foto: Matthias Baus

Reiner Oratoriengesang freilich findet auch nicht statt, dazu sind die Gesten und nicht zuletzt die schwarzweißen Videos mit verzweifelt ringenden oder auch betenden Händen zu konkret. Am Premierenabend hat vielleicht der Dirigent die Antwort geboten: Diego Fasolis holte mitten im Applaus, mit dem das Publikum seine eindringliche, dramatische und zugleich verinnerlichte Darbietung honorierte, die Partitur der Johannes-Passion und stellte sie demonstrativ auf den Souffleurkasten – als eigentliche Hauptakteurin, und sie ist es denn auch, die Rasche präzise mit den Sängern auf die Bühne brachte. Allein wie er den Evangelisten immer wieder nahezu unbemerkt auftreten und abgehen lässt, entspricht ganz dem Charakter dieser Figur – eigentlich nur rein vermittelndes Organ und doch auch zugleich Hauptfigur, und Moritz Kallenberg gelingt dabei eine überwältigende Darstellung eines einerseits neutral das Geschehen Vermittelnden, andererseits – was die Musik nahelegt – von dem Geschehen, das er vermittelt, unmittelbar Ergriffenen.

Der Nachteil dieser szenischen Version, die eben doch Elemente einer Operninszenierung enthält, zeigt sich im Chor. Ist er in einzelne Gruppen aufgeteilt, gelingt ihm, der wohl einer der besten Opernchöre Deutschlands ist, die Präzision, die Textverständlichkeit und Ausdruck verlangen. Doch im Gesamtklang, vor allem zu Beginn, rächt sich, dass die Mitglieder des Chors, wie bei einer Operninszenierung selbstverständlich, durcheinander gemischt über die Bühne ziehen, mal hinten stehen, mal an der Rampe. Was im Konzertsaal durch die statische Platzierung der Sänger klanglich präzise vermittelt werden kann, geht hier stellenweise in einem Klangnebel unter.

Ob eine szenische Realisierung Bachs Passion überhaupt dienlich ist, mag jeder für sich entscheiden, nötig hat die Musik sie nicht, so behutsam und gedankenreich sie auch von Rasche konzipiert und realisiert wurde. Bachs Passion ist wohl doch in erster Linie ein Werk der Musik, die im Zuhörer eher innere Bilder evozieren soll, ein Werk der Ohren, nicht der Augen.

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