Genau genommen sind Natur und Kunst Gegensätze: Das eine ist gewachsen, das andere gemacht, das eine ohne menschliches Zutun, nicht selten dem Zufall entsprungen, das andere produziert, von Menschenhand gestaltet, im Idealfall mit bewusster Aussage. Eine Ausstellung in der Fähre in Bad Saulgau zeigt derzeit, wie die beiden einander so fernen Bereiche sich zur Einheit fügen können, indem die Kunst ihren Ausgangspunkt von der Natur nimmt, diese dann aber in etwas gänzlich Neues verwandelt.
Florian Staudenmaier, Der Baum, 2023
Es ist nur ein Baum, so könnte man meinen, den Florian Staudenmaier fotografiert hat, wenn auch ein besonderer; es ist die Friedenslinde im Kreis Ravensburg. Und auch das Foto weist eine Besonderheit auf: Staudenmaier hat es von der Digitalkamera auf ein Papier übertragen, das er aus dem Holz dieses Baums gewonnen hat: So bilden Kunst und Natur eine unerwartete und untrennbare Einheit, wenn auch „nur“ im übertragenen, weil fotografischen Sinn.
Man kann natürlich auch unmittelbar auf die Natur zurückgreifen und deren Erzeugnisse in Kunst verwandeln. So formte Pauline Adler aus Flugsamen überdimensionale Tropfen und gibt auch immer wieder an, woraus ihre Werke bestehen: aus Samen der Artischocke, der Distel. Aus aufgelesenen Piniennadeln gestaltete sie eine Hommage an einen Urlaub: „Kretische Tagebücher“. Und Clematissamen auf einer Platte unter einer Plexiglashaube scheinen geradezu ein kleines Ballett aufzuführen. So wird Natur unmittelbar in künstlerische Gestaltung überführt. Dabei geht Pauline Adler immer wieder auf das Wesen ihrer der Natur entnommenen Materialien ein: So tun Kletten bei ihr das, was sie nun einmal aufgrund ihrer Beschaffenheit tun: Sie hängen aneinander und bilden Matten, aus denen sogar so etwas wie Kleidungsstücke geformt sind. Pauline Adler, Muff, 2024
Ob man freilich seine Hand in Pauline Adlers Kletten-Muff stecken will, bleibe dahingestellt. Immerhin. Bei einer Arbeit verdeutlichen ihre Kletten, was sie können: Auf einem Fußabstreifer verkünden sie in Schönschrift: „Alleshängtanmir“ – das alles natürlich zusammengeschrieben; die einzelnen Wörter hängen eben aneinander wie Kletten.
Ähnlich nah an der Natur scheint herman de vries zu sein. Er hat auf Papier verschiedene Erdproben verrieben. Das Resultat: Blatt für Blatt abstrakte informelle Farbmalerei, und doch nichts als der Abdruck dessen, was die Natur uns bietet – Erde. Der Künstler hat die Erden allerdings nicht persönlich gesammelt, sondern sich die Proben von Einwohnern rund um Ravensburg bringen lassen. So ergibt sich gewissermaßen ein sehr persönliches „Abbild“ ihrer Heimat, und der Filmemacher Kristof Georgen hat dieses Sammeln festgehalten. So finden die Arbeiten von de vries in dieser Ausstellung durch Georgens Film eine adäquate Ergänzung; beide sollten eigentlich immer zusammen gezeigt werden: Genese und Resultat eines Kunstprozesses sind zur Einheit verschmolzen.
Diese Einheit kann man auch an den Arbeiten nachvollziehen, die Pauline Adler mit Fichten kreierte. Sie hat die dünnen Stämmchen mit Japanpapier abgeformt, also von den Naturobjekten ein Kunstbild geschaffen. Man meint, in den leeren weißen Papierhülsen die Stämme noch zu sehen, die zu ihrer Abformung beigetragen haben – Natur und Kunst eben in einer Synthese.
Ob man dieses Verhältnis auch an den Fotografien ablesen kann, die Jana Bauch auf einem Seenotrettungsschiff aufgenommen hat, bleibt dem Urteil des Betrachters überlassen; ebenso, ob man sich dabei unbedingt an Natur erinnert fühlen kann.
Sehr viel näher an der Natur dagegen ist man bei dem Film von Frank und Ursula Wendeberg sowie dem Fotografen Karlheinz Grosshauser. Beide haben Aufnahmen von einem Fluss zu einem raffinierten Ineinander unterschiedlicher Perspektiven kombiniert: So sieht man mal in der Totale das Gewässer behäbig dahinströmen, dann wieder scheint man bis zum Grund in das Wasser einzutauchen. Die Geräusche, die dabei entstanden, haben sie zu einer Musikcollage verarbeitet, vom Rauschen des Bachs, dem Gluckern von Moos oder dem Nagen des Borkenkäfers, dem Knattern von Libellenflügeln, dem Herzschlag einer Erdkröte, bis hin zum sanften Anlaufen der Wellen am Meer. Auch das eine Möglichkeit, Natur unmittelbar in Kunst zu überführen und akustisch und visuell ein geradezu surreales Erlebnis zu ermöglichen.
Waltraud Späth, Miteinander, 2021
Das ermöglicht Waltraud Späth in zahlreichen ihrer Arbeiten dem Besucher der Ausstellung auch ohne das Medium Film. Sie gestaltet Verbindungen – Annäherungen, die auf den ersten Blick wie ein Widerspruch wirken: Bei ihr trifft Natur – in Form von Holz – auf Menschengemachtes, auf Industrielles – auf Beton und Stahl. Und siehe da: die einander so fernen Stoffe scheinen sich zu mögen, gehen gar enge Verbindungen ein und bleiben doch stets, was ihrem Wesen entspricht: Naturgewachsenes, ehemals Lebendiges, und Menschengemachtes, Totes – Holz sowie Beton und Stahl.
„Remembering Nature“ bis 23.11. 2025, Begleitheft 16 Seiten