Archiv der Kategorie: Literatur

Welt im Wandel: Anthony Trollope „The Way We Live Now“ in neuer deutscher Übersetzung: „Umwälzungen“

Über hundert Bücher soll Frances Trollope verfasst haben, obwohl sie erst mit über fünfzig damit angefangen hatte, so berichtet es ihr Sohn Anthony, dem sie dadurch bei seinem bescheidenen Salär im Postdienst zu Beginn unter die Arme greifen konnte, bis er selbst mit Anfang dreißig zu schreiben begann. Er brachte es „nur“ auf knapp fünfzig Romane, was ihm die Kritik als Vielschreiber einbrachte. Das freilich muss kein negatives Qualitätsurteil sein; ihm gelangen brillante Porträts der englischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In einem seiner besten und mit rund tausend Seiten längsten Bücher zeichnete er 1875 das unterhaltsame und präzise Bild seiner Gesellschaft, die er sehr kritisch sah. Deutsche Verlage haben sich mit seinen Büchern schwer getan, jetzt ist sein vielleicht bedeutendstes in einer neuen Übersetzung erschienen: The Way We Live NowUmwälzungen. Ein Gesellschaftsroman.

Anthony Trollope, Umwälzungen – Erster Band

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Wiedergelesen: Dreimals „Mrs. Dalloway“: Michael Cunningham: Die Stunden

1925 erschien in London ein Roman, der dieser Gattung ganz neue Dimensionen erschloss. Äußerlich betrachtet geschieht nicht viel: Es geht um die Alltäglichkeiten einer kleinen Personengruppe in London nach dem 1. Weltkrieg. Dem Leser werden diese Äußerlichkeiten aber fast ausschließlich durch die Wahrnehmungen und Gedanken der einzelnen Figuren vermittelt: Die Außenwelt spiegelt sich in der Innenwelt. The Hours wollte Virginia Woolf diesen ihren vierten Roman nennen, Die Stunden, entschied sich dann aber für Mrs. Dalloway. 1998 griff der amerikanische Romancier Michael Cunningham für einen neuen Roman Woolfs ursprünglich geplanten Titel auf: The Hours, Die Stunden.

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Eine der größten ihres Fachs: George Eliot – ein Porträt. Teil 3

1841, mit 22 Jahren, zog Mary Ann Evans, die unter dem Pseudonym George Eliot Romangeschichte schreiben sollte und deren Hauptwerk Middlemarch noch im 21. Jahrhundert in einer Umfrage bei hundert englischen Kritikern zum besten englischen Roman gekürt wurde, mit ihrem Vater, der sich in den Ruhestand zurückgezogen hatte, nach Foleshill bei Coventry. Da war sie eine aufopfernde Tochter und glühend gläubige Christin. Nur ein Jahr danach hat sie ihren Glauben verloren, verkehrt in freigeistigen Zirkeln, macht erste journalistische Erfahrungen und knüpft zu meist älteren Männern enge Beziehungen, die keine Liebesbeziehungen sind, aber die Umgebung irritieren. Das ändert sich mit dem Tod ihres Vaters. Marian, wie sie sich inzwischen schreibt, ist frei, zieht nach London, um sich weiter als Journalistin zu betätigen, und findet hierzu im Haus des Verlegers John Chapman die idealen Möglichkeiten.

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Eine der größten ihres Fachs: George Eliot – ein Porträt. Teil 2

Es dauerte gerade einmal fünf Jahre, und aus der Wissenschaftsjournalistin und Übersetzerin philosophischer Schriften Marian Evans ist eine erfolgreiche Schriftstellerin von Romanen geworden. Zwar hat sie erst zwei Bücher vorgelegt, aber die Verkaufszahlen schnellen in die Höhe, die Einnahmen steigen, und nach weiteren fünf Jahren ist die anfangs wegen ihrer wilden Ehe mit dem Sachbuchautor George Henry Lewes im viktorianischen England gesellschaftlich geächtete Frau eine in den höchsten Kreisen begehrte, ja vergötterte Autorin geworden, die ihre Romane unter dem Pseudonym George Eliot schreibt und in ihrem Haus buchstäblich Hof hält – eine erstaunliche Karriere, vor allem, wenn man ihre Herkunft bedenkt!

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Eine der größten ihres Fachs: George Eliot – ein Porträt. Teil 1

Als weiblicher Shakespeare wurde sie verehrt, aber auch als „Stinkbombe der Menschheit“ abgeurteilt: An George Eliot schieden sich die Geister. Aber immer noch zählt sie zu den größten Romanschriftstellerinnen zumindest ihrer Zeit, wenn nicht der Literaturgeschichte überhaupt. Eine Frau, deren Leben sich selbst wie ein Roman liest. Hier das erste Kapitel dazu.

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Vorarbeiter der literarischen Moderne: Herman Melville

Es ist ein Klassiker der Filmgeschichte: John Hustons Moby Dick von 1956, nicht zuletzt vielleicht auch, weil Gregory Peck, Spezialist für sensible, integre Figuren, hier den dämonischen Kapitän Ahab spielt, der in grenzenlosem Hass den weißen Wal jagt, der ihm einst ein Bein abgerissen hat. Doch mit der Einschränkung auf diesen Handlungsstrang wird der Roman von Herman Melville, auf dem der Film basiert, drastisch verkleinert – und das Bild des Autors wiederum gleichermaßen, weil die meisten Leser von ihm nur diesen Titel kennen, den viele nicht einmal ganz gelesen haben. Der Amerikanist Arno Heller hat Melville in seiner ganzen Komplexität porträtiert und sein Werk als Wegbereiter der Moderne gedeutet.

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Aus der Provinz auf den literarischen Olymp: Zum 200. Geburtstag von George Eliot

Iwan Turgenjew sah in ihr eine der größten Erzählerinnen des Jahrhunderts. In ihrem Salon fanden sich literarische Größen wie Charles Dickens oder Henry James ein, und selbst Mitglieder des Königshauses fühlten sich geehrt, dort vorgelassen zu werden. George Eliot hatte in den Intellektuellenkreisen einen fast göttinnenähnlichen Nimbus, und auch heute werden ihre Romane hoch geschätzt. Für einen Julian Barnes ist ihr Anfang der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts erschienenes Hauptwerk Middlemarch der „wahrscheinlich bedeutendste englische Roman überhaupt“, wie einer jüngst bei dtv neu erschienenen Übersetzung des Werks zu entnehmen ist. Dennoch ist sie heute zumal in Deutschland eher ein Geheimtipp. Am 19.November 2019 jährt sich ihr Geburtstag zum 200. mal.

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Butler fürs Leben: Kazuo Ishiguros Roman Was vom Tage übrig blieb

Ein gelungener Roman ist ein wahres Wunderwerk. Nur aus Wörtern ersteht eine fiktive Welt, die es ausschließlich nicht in diesem Roman gibt, sondern durch ihn, in der Fantasie des Lesers – eine Welt besiedelt von Figuren, die gleichfalls irreal sind und doch für den Leser eine Realität annehmen, die die der realen Menschen um ihn herum nicht selten übersteigt. Mit seinem bislang wohl besten Roman Was vom Tage übrig blieb gelang Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro das Kunststück, weit mehr als nur einen Roman zwischen zwei Buchdeckeln unterzubringen.

Was vom Tage uebrig blieb von Kazuo Ishiguro

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Wiederentdeckt: E.M.Forster: Zimmer mit Aussicht. Eine Liebesgeschichte

Seit der Renaissance ist Italien ein Mekka für Künstler, für die wohlhabenden jungen Engländer war es ab dem 18. Jahrhundert ein Muss auf ihrer Grand Tour über das Festland, im Hollywoodkino bekehrt es geschäftstüchtige und allzu nüchterne amerikanische Herren der besseren Gesellschaft zum Dolce far niente. Auch der englische Schriftsteller E. M. Forster, Jahrgang 1879, war offenbar nicht unempfänglich für die Reize des Landes, wo die Zitronen blühen. Zwei seiner sechs Romane spielen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil im Land der Sonne und der Kultur, so auch der durch James Ivorys Verfilmung einem breiteren Publikum bekannte Roman Zimmer mit Aussicht.

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Wiederentdeckt: E.M. Forster, Wiedersehen in Howards End

Wenn von einem Schriftsteller, der nur sechs Romane geschrieben hat, drei den Weg auf die internationale Leinwand gefunden haben, ist das ein Zeichen für ein gerüttelt Maß an Popularität. Die genießt E.M. Forster in der angelsächsischen Welt durchaus, seit David Lean seinen Roman Reise nach Indien 1984 verfilmte. Dem folgte ein Jahr danach James Ivorys nicht minder erfolgreiche Version von Zimmer mit Aussicht und 1992 Ivorys Film Wiedersehen in Howards End. Nur in Deutschland hält sich diese Popularität in Grenzen – zu Unrecht, denn Forsters Romane sind vorzüglich geschriebene Gesellschaftspanoramen mit subtilen Einsichten in die Psychologie und Lebensumstände der Figuren. In Howards End, so der englische Titel, zeichnet er eine Gesellschaft an der Zeitenschwelle zur Moderne.

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