Archiv der Kategorie: Literatur

Großstadt contra Provinz: Sinclair Lewis, Main Street

An Selbstbewusstsein scheint es ihm nicht gemangelt zu haben. 1926 wurde Sinclair Lewis für seinen Roman Arrowsmith der Pulitzerpreis zuerkannt. Er aber lehnte ab, angeblich, weil der Titelheld eine für Amerika untypische Arztgestalt sei, wohl eher aber, weil er verärgert war, dass das Kuratorium eben dieses bedeutenden Preises die Jury überstimmte, die Lewis für den 1921 erschienenen Roman Main Street denselben Preis zuerkannt hatte. 1930 folgte dann die internationale Rechtfertigung. Als erster amerikanischer Schriftsteller erhielt er den Literaturnobelpreis, sicher zu Recht: Kaum ein anderer Schriftsteller hatte sich derart minutiös dem Alltagsleben des Durchschnittsbürgers gewidmet. In Babbitt schildert er einen mit dem Durchschnittsleben unzufriedenen Helden, in Main Street schickt er eine junge Frau in die Provinz, die dort das gesellschaftliche Leben revolutionieren will. Der Manesse Verlag hat den Klassiker jetzt neu herausgebracht.

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Der Roman als Irreführung: Ford Madox Ford: Die allertraurigste Geschichte

Sein Leben liest sich wie eine Erfolgsgeschichte: Dem 1873 geborenen Ford Madox Ford, der eigentlich Ford Hermann Hueffer hieß, schien alles zu gelingen, was er anpackte. Mit neunzehn schrieb er seinen ersten Roman, mit fünfundzwanzig arbeitete er mit Joseph Conrad zusammen an zwei Romanen, er gründete die English Review und förderte Autoren wie D.H. Lawrence, Wyndham Lewis und Ezra Pound, später auch Joyce und Hemingway. Aber nach seinem Tod 1939 geriet er im Gegensatz zu den von ihm Geförderten weitgehend in Vergessenheit. Doch mit einem Roman zumindest hat er sich bleibenden Ruhm verdient, einem Roman, der von Graham Greene immer wieder gelesen und von Ruth Rendell in höchsten Tönen gelobt wurde: Die Allertraurigste Geschichte.

Ford Madox Ford. Die allertraurigste Geschichte. Diogenes Verlag

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Brüssel, wie es sein könnte. Robert Menasses Roman Die Hauptstadt

Brauchte Robert Menasse Walter Hallstein in seinem Europaroman? Sicher, würde der Romancier wohl antworten, schließlich plädiere er für ein starkes Europa, in dem die nationalen Grenzen möglichst abgebaut werden sollten, ein nachnationales Europa, und Walter Hallstein, der Präsident der ersten Kommission der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, hatte sich für die Entwicklung europäischer Institutionen stark gemacht, und also führte er den Politiker in seinem Roman als Referenzinstanz ein, ohne sich allerdings nennenswert um die historischen Fakten zu kümmern. Über dem darüber entstandenen publizistischen Aufstand geriet sein Roman fast ins Hintertreffen, dabei hätte Menasse sich diesen Ärger sparen können.

Robert Menasse. Die Hauptstadt. Suhrkamp Verlag

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Wiederentdeckt: Zwischen Realität und Fiktion: Colm Tóibíns Roman über Henry James

Er hatte mit seiner Mozart-Biographie einen Klassiker der Mozartliteratur geschrieben, der in über zwei Dutzend Sprachen übersetzt wurde, und doch behauptete Wolfgang Hildesheimer danach kategorisch, eine perfekte Biographie könne man über einen Menschen, der tatsächlich gelebt habe, nicht schreiben. Und so schrieb er nach dem „biographischen Essay“ über das musikalische Wunderkind eine „Biographie“, in der alle Figuren rund um den Protagonisten gelebt haben, nur der „Titelheld“ nicht: Marbot. Dies kommt einem in den Sinn, wenn man das Buch des Iren Colm Tóibín zur Hand nimmt, in dem er den großen Romancier Henry James porträtiert, nicht in einer Biographie, sondern in einem 2005 erschienenen Roman.

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Im Kopf des Dichters: Thomas Mann in Amerika

Im Rückblick, wieder in der Schweiz, mag es Thomas Mann wie eine ironische Fügung vorgekommen sein. Vierzehn Jahre dauerte sein Exil in den USA, und es zerfiel in zweimal sieben Jahre – sieben glückliche, in denen er als Repräsentant deutscher Literatur und europäischer Kultur galt, und sieben, in denen ihm im Zuge der Kommunistenverfolgung eines McCarthy der Wind entgegen blies. Für einen Schriftsteller, dem Ironie und Symbolik zum Wesensausdruck geworden waren, eine interessante Konstellation. Ihr widmete das Deutsche Literaturarchiv Marbach eine große Ausstellung, die mehr ist als eine bloße literarhistorische Informationsschau.

Blick in die Ausstellung (Foto: Chris Korner, DLA Marbach)

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Gesetzmäßigkeiten der Tragik: Shakespeares Romeo und Julia am Schauspiel Stuttgart

Es ist eine der folgenreichsten Tragödien der Literaturgeschichte. Die tragisch endende Liebe zwischen Romeo und Julia aus zwei verfeindeten Adelshäusern bereicherte die Kinoleinwand, den Broadway, die Welt des Musicals – und die Stadt Verona, nicht zuletzt wegen des Balkons, von dem herab Julia ihrem Romeo den berühmten Spruch von der Lerche und der Nachtigall zugerufen haben soll. Der Regisseur Oliver Frljić baut denn in seiner Inszenierung am Schauspiel Stuttgart auf die Popularität der Geschichte und verzichtet daher, sie noch einmal von Anfang an auf der Bühne zu erzählen.

David Müller (Tybalt), Nina Siewert (Julia), Valentin Richter (Benvolio), Benjamin Pauquet (Graf Paris), Thomas Meinhardt (Pater Lorenzo), Jannik Mühlenweg (Romeo), Christoph Jöde (Mercutio), Franz Laske (Montague), Klaus Rodewald (Capulet). Foto: Thomas Aurin

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Eine Stadt, die sich der Definition entzieht: Paris im Blick der Schriftsteller

Paris ist ein Begriff. Man meint es zu kennen, selbst ohne dort gewesen zu sein. Man weiß, wie der Eiffelturm in die Höhe ragt, bewundert in Notre Dame die Wunder der Gotik, im Louvre die der Kunst, man ergeht sich im Bois de Boulogne, bestaunt auf dem Friedhof Père Lachaise die Pracht der Grabmale. Paris ist mit seinen Sehenswürdigkeiten ein Wunder, doch wenn man in einer Ausstellung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach nachsieht, wie all jene Schriftsteller, die diese Stadt an der Seine erlebt haben, die es aus dem deutschsprachigen Raum in die Metropole zog oder verschlagen hat, dann fragt man sich, wo dieses Paris, das man kennt, abgeblieben ist.

Siegfried Kracauer. Fotografie Paris 1938. Foto: DLA Marbach

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Untergang als Comic: Sebastian Baumgarten inszeniert Salome am Schauspiel Stuttgart

Wenn man Vorgeschichte als Omen begreift, dann stand diese Figur unter einem bösen Stern. Salome war die Enkelin jenes Herodes, der für den bethlehemitischen Kindermord verantwortlich war, und sie war eine Tochter der Herodias, die in zweiter Ehe mit dem Bruder ihr ersten Mannes verheiratet war – auch er ein Herodes, was den Widerspruch des Propheten Johannes hervorrief. Was kann da schon Gutes entstehen? Und so wurde Salome denn auch zum Inbegriff des verführerischen Frau, die mit einem Schleiertanz ihren Stiefvater dazu bringt, ihr das Haupt des von ihr geliebten Propheten Johannes zu liefern. Die Erzählung findet sich in der Bibel, nicht jedoch der Name dieser Prinzessin. 1893, in der Blütezeit des Fin de Siècle, das eine besondere Vorliebe für die Laszivität dieser Figur hatte, veröffentlichte Oscar Wilde sein Drama um diese Prinzessin, hundert Jahre danach bearbeitete Einar Schleef das Stück und betonte vor allem eine krude Sexualität. Jetzt hat Sebastian Baumgarten diese Version am Schauspiel Stuttgart inszeniert.

Christian Czeremnych, Julischka Eichel, Horst Kotterba, Sebastian Röhrle. Foto: Birgit Hupfeld

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Ein Märchen um König Fußball: J. L. Carrs Buch Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten

Dass ein Zwerg einen Riesen besiegen kann, ist spätestens seit der Geschichte von David und Goliath Standardmotiv so mancher Märchen. Und Märchen werden auch in der Welt, in der wir leben, wahr. So geschehen 2008 in Deutschland. Da stieg der Fußballverein einer 3000-Seelen-Gemeinde in die Bundesliga auf. Zugegeben: es hatte der Unterstützung eines millionenschweren Unternehmers bedurft, aber die Sensation war perfekt: Die TSG Hoffenheim schreibt Fußballgeschichte. Dass ein solches Märchen auch in einem Dorf wahr werden kann, hat J.L.Carr 1975 in einem schmalen Bändchen geschildert. Und dieser Fußballmannschaft gelang nicht nur der Aufstieg in die englische Liga, sie errang sogar den Finalsieg im Wembley Stadion und damit den Englischen Pokal.

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Das Wunder des Alltags: J. L. Carrs Monat auf dem Land

Homer ließ seinen Helden quer über das Mittelmeer segeln, mit Riesen kämpfen, sich gegen verführerische Frauen zur Wehr setzen und von einer Zauberin bezirzen lassen. Dafür brauchte er mehrere hundert Seiten. Ungleich mehr, knapp tausend Seiten, benötigte Thomas Mann einzig mit der Schilderung dessen, was ein junger Mann über mehrere Jahre hinweg in einem Lungensanatorium erlebt. Literatur braucht keine großen Inhalte, sie kommt mit der Schilderung einiger Kleinigkeiten aus. Das gilt auch für die Bücher von J. L. Carr, die Titel wie Ein Tag im Sommer oder Ein Monat auf dem Land tragen. Trotzdem waren sie erfolgreich, der Monat wurde sogar mit Schauspielern vom Rang eines Colin Firth und Kenneth Branagh verfilmt. Nur in Deutschland suchte man seine Bücher bislang vergebens. Jetzt ist der Monat auf dem Land auf deutsch erschienen – mit fast vierzigjähriger Verspätung.

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