Eine Stadt, die sich der Definition entzieht: Paris im Blick der Schriftsteller

Paris ist ein Begriff. Man meint es zu kennen, selbst ohne dort gewesen zu sein. Man weiß, wie der Eiffelturm in die Höhe ragt, bewundert in Notre Dame die Wunder der Gotik, im Louvre die der Kunst, man ergeht sich im Bois de Boulogne, bestaunt auf dem Friedhof Père Lachaise die Pracht der Grabmale. Paris ist mit seinen Sehenswürdigkeiten ein Wunder, doch wenn man in einer Ausstellung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach nachsieht, wie all jene Schriftsteller, die diese Stadt an der Seine erlebt haben, die es aus dem deutschsprachigen Raum in die Metropole zog oder verschlagen hat, dann fragt man sich, wo dieses Paris, das man kennt, abgeblieben ist.

Siegfried Kracauer. Fotografie Paris 1938. Foto: DLA Marbach

Natürlich findet sich hier auch der Eiffelturm. Siegfried Kracauer hat ihn mit seinem Fotoapparat auf Zelluloid gebannt, und Yvan und Claire Goll haben ihn mit spitzem Stift im Gästebuch des Sexualforschers Magnus Hirschfeld zu Papier gebracht. Doch wer sich in dem großen Saal, der eigens Siegfried Kracauer und seinen Fotografien gewidmet ist, umsieht, wird ansonsten die großen Magnete des Stadtbildes vermissen. Erst recht auf den Fotos von Georg Stefan Troller, der die Nebenstraßen festhielt, die schäbigen Hausfassaden, eben das Paris, das es auch gibt, das vielleicht sogar den größten Teil dieser Metropole ausgemacht hat.

Georg Stefan Troller. Hotel an der Place de la Contrescarpe,frühe 1950er Jahre © Verlagshaus Römerweg Wiesbaden

Es war das Paris, das ein Rainer Maria Rilke kennenlernte, als er sich eine Unterkunft suchte und im Quartier Latin fand mit schlecht gekleideten Arbeitern, Abfall und Schmutz, wie Wolfgang Matz in seinem grandiosen Katalogessay schreibt. Wenn dieser Rilke dann in das Paris eintaucht, das Baron Haussmann als Gegenpol zu dem düsteren Paris schuf mit großen Straßenschneisen und prunkvolle Gebäuden, wo der Verkehr strömt, dann ist er überwältigt, weil überfordert. Sein Paris, das er in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge skizziert, führt ihn an den Rand des Nervenzusammenbruchs.

Ähnlich dürfte es Franz Kafka gegangen sein, der buchstäblich in dieses Paris hineinstolperte und befand, zu den Eigentümlichkeiten dieser Stadt gehöre es, dass man am liebsten gleich wieder wegfahren möchte.

Demgegenüber freilich stehen Dichter wie Joseph Roth, der in unverhohlener Bewunderung feststellte, dass, wer nicht in dieser Stadt gewesen sei, „nur ein halber Mensch und überhaupt kein Europäer“ sei. 

Heinrich Heine. Augsburger Zeitung 11.12.1841. Leihgabe des Heinrich-Heine-Instituts, Düsseldorf

Damit ist er Bruder im Geiste mit Heinrich Heine, der in einem Aufsatz für die Augsburger Zeitung feststellte, an keinem Ort könne man sich als Deutscher heimischer fühlen als eben in dieser Stadt – was er selbst denn mit seiner Biographie belegte.

Warum dem so ist, das sagt er freilich nicht, wie überhaupt die hymnischen Beschreibungen dieser Autoren sich in Eindrücken ergehen, die weniger an Fakten oder Äußerlichkeiten festzumachen sind. Im Pariser Frühling gehe man, so Kurt Tucholsky, wie „auf Samt“.

Paris, das ist eine Stadt der Empfindung und der Assoziationen, und als solche vielleicht die ideale Stadt für Schriftsteller. Paul Celan verglich sie mit der Herbstzeitlosen und klebte eine solche Pflanze in sein Blumenbuch; für Claire Goll ist sie die Stadt der Rosen und Tulpen. Hugo von Hofmannsthal und Stefan George wiederum schwelgen hier in literarischen Assoziationen, George übersetzt Mallarmé, Hofmannsthal plant eine Habilitation über Victor Hugo.

Eine Stadt der vielfältigen Wunderbarkeiten also, und doch auch eine, die anwidern kann, wie Rilke befand. Und die Eigentümlichkeiten dieser Stadt – seien sie nun baulicher Art oder künstlerischer oder auch ganz allgemein atmosphärischer – lernt man nicht kennen, wenn man von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit eilt, sondern indem man in ihr schlendert, flaniert, wie es Walter Benjamin vorgemacht hat, dessen Passagen-Werk denn auch vielleicht bezeichnenderweise nicht ein in sich geschlossener großer Essay über das Wesen dieser Stadt ist, sondern aus lauter Einzelbeobachtungen besteht, aus 426 mit kleinster Schrift gefüllten Doppelseiten.

Es ist dies wohl die angemessenste Art, einer Stadt zu begegnen, die aus so vielen auch disparaten Faszinationen besteht, zu denen auch abstoßende zählen mögen. So ist die Ausstellung denn auch sinnigerweise gegliedert in verschiedene Arten, sich durch eine Stadt zu bewegen. Mit Felix Hartlaub taumelt man, mit Claire Goll stolziert man, mit Kracauer „panoramisiert“ man, was bei ihm schließlich in einen handgezeichneten Stadtplan mündete – nicht einen der Stadt, die er in den dreißiger Jahren mit seiner Kamera durchstreifte, sondern der, in der ein Jacques Offenbach Karriere machte, dem er dann sein ganz besonderes „Paris“-Buch widmete.

So steht am Ende dieses Austellungsparcours, bei dem dem Besucher wie stets in Marbach eine große Leseleistung abverlangt wird, die Frage, die sich Lothar-Günther Buchheim stellte, ob es nämlich Paris überhaupt gebe oder ob nicht so viele Städte dieses Namens existierten, wie sich Menschen darin aufhielten. Und damit ist diese Ausstellung mehr als ein synthetisierendes Porträt einer Stadt, sondern eine Lektion, wie man sich Städten ganz allgemein nähern sollte – tastend, erforschend, entdeckend ohne Reiseführer mit dem Ziel, einfach zu sehen.

Die Erfindung von Paris“. Literaturmuseum der Moderne, Marbach, bis 31.3.2019. Katalog 351 Seiten, 30 Euro

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