Eine der größten ihres Fachs: George Eliot – ein Porträt. Teil 3

1841, mit 22 Jahren, zog Mary Ann Evans, die unter dem Pseudonym George Eliot Romangeschichte schreiben sollte und deren Hauptwerk Middlemarch noch im 21. Jahrhundert in einer Umfrage bei hundert englischen Kritikern zum besten englischen Roman gekürt wurde, mit ihrem Vater, der sich in den Ruhestand zurückgezogen hatte, nach Foleshill bei Coventry. Da war sie eine aufopfernde Tochter und glühend gläubige Christin. Nur ein Jahr danach hat sie ihren Glauben verloren, verkehrt in freigeistigen Zirkeln, macht erste journalistische Erfahrungen und knüpft zu meist älteren Männern enge Beziehungen, die keine Liebesbeziehungen sind, aber die Umgebung irritieren. Das ändert sich mit dem Tod ihres Vaters. Marian, wie sie sich inzwischen schreibt, ist frei, zieht nach London, um sich weiter als Journalistin zu betätigen, und findet hierzu im Haus des Verlegers John Chapman die idealen Möglichkeiten.

Sie trifft dort allerdings auch auf einen Mann, der ganz anders ist als die, mit denen sie bisher in Kontakt gekommen war. Die waren meist älter, eher intellektuelle Vaterfiguren, Lehrergestalten. Chapman ist anders. Er ist charmant, ein Tausendsassa, hatte sich als Uhrmacher in Australien betätigt, Medizin studiert, erste, wenn auch alles andere als überzeugende Schritte als Autor unternommen und schließlich ein Verlagshaus in London gegründet. John Chapman, damals 29 Jahre alt, ist groß, kräftig, vor allem aber von magnetischer Ausstrahlung, nicht zuletzt auch auf Frauen. Seit sieben Jahren ist er mit Susanna Brewitt verheiratet, der einzigen Tochter eines Fabrikanten aus Nottingham, der ihr ein Vermögen hinterließ. Das macht offenbar die betrübliche Tatsache nebensächlich, dass sie alles andere als attraktiv ist und zudem um Etliches älter als ihr Mann. Sie haben drei Kinder, und Chapman, immer findig, wenn es um die Möglichkeit geht, Geld zu verdienen, vermietet in ihrem gemeinsamen Haus Zimmer für Pensionsgäste; eines an eine gewisse Elizabeth Tilley, die im Haushalt hilft und mit der Chapman alsbald ein Verhältnis hat. Dafür ist er weithin bekannt, Freunde ziehen Vergleiche zu dem als Frauenheld bekannten Lord Byron, und das nicht wegen der literarischen Fähigkeiten.

In dieses Haus mietet sich nun auch Marian Evans ein. Chapman hatte ihre Übersetzung von David Friedrich Strauß‘ Das Leben Jesu in seinem Verlag herausgebracht, sie hatte sich bereits durch Rezensionen und Übersetzungen einen Namen in der intellektuellen Welt gemacht, und Chapman hatte die renommierte Westminster Review erworben, ein Blatt für Intellektuelle, in dem Rezensionen Dutzende von Seiten einnehmen können – ein Wunschtraum aus heutiger Sicht. Nur ist Chapman intellektuell für ein solches Unternehmen nicht geeignet, sehr im Unterschied zu Marian Evans, und so zieht sie ein in den Chapman-Haushalt – von Anfang an mit Misstrauen von der Londoner Gesellschaft beobachtet. Doch die junge Dame aus der Provinz erweist sich bald als unverzichtbar. Gebildet, stilistisch versiert, ernsthaft und stets bei der Sache, ist sie der Zeitschrift eine gute Herausgeberin – auch wenn sie dafür keinen Penny bekommt und nur für eigene Artikel bezahlt wird. Aber sie fühlt sich wohl wie lange nicht mehr.

Sie mietet ein Klavier – und Chapman entwickelt eine plötzliche Vorliebe für „Mosart“, der er in Miss Evans‘ Zimmer nachgeht. Frau Chapman kauft daraufhin ebenfalls ein Klavier und lässt es im Salon aufstellen. „Mosart“ findet jetzt nicht mehr im Separee statt, sondern unter aller Augen. Doch damit nicht genug. Hatte Frau Chapman die Liaison ihres Mannes mit Miss Tilley noch geduldet, so ist sie zu weiteren Zugeständnissen nicht mehr bereit. Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen mit dem Ehemann, der die Affäre herunterspielt und verharmlost. Was Chapmann in seinem Tagebuch für den 22. Dezember 1851 vermeldet, liest sich wie ein Heftchenroman: Er habe Miss Evans eingeladen, nach dem Frühstück auszugehen, aber keine definitive Antwort erhalten. Seine Geliebte Elizabeth Tilley habe betont, sie würde ihn beim Spazierengehen begleiten. Das habe zu einer groben Absage seitens Miss Evans‘ geführt. Überdies habe auch Ehefrau Susanna mitgehen wollen, und da die beiden Damen nicht gewillt gewesen seien, weit zu gehen, habe er vorgeschlagen, sie sollten ein Stück ohne ihn gehen, was als Affront seinerseits aufgefasst wird und ihm Verdächtigungen und Anklagen einbringt, was dieser partout nicht verstehen kann.

Ein Stoff für einen Roman? Jedenfalls deutliche Anzeichen für eine Krise. Zwei Wochen währt die Ménage à trois, dann zieht Marian Evans aus. Nicht freiwillig, und nicht ohne Tränen. Chapman gesteht ihr seine große Zuneigung zu ihr, aber er liebe eben auch Elizabeth und Susanna, wenn auch jede auf andere Weise.

Chapman kommt jedoch ohne sie mit seiner Zeitschrift nicht zurecht – vielleicht drängt auch Marian auf eine Rückkehr; jedenfalls zieht sie wieder in das Haus des Verlegers, widmet sich der Arbeit – und trifft dort einen anderen Mann. Er ist das krasse Gegenteil des Weiberhelden Chapman: Herbert Spencer, einer der größten Philosophen seiner Zeit, der Begründer der Soziologie, zudem Mitarbeiter der Westminster Review, die die größten Geister der Nation als Autoren beschäftigt. Bis hin zu Karl Marx, der der heimlichen Herausgeberin allerdings nie begegnet. Spencer hat Theaterkarten, man trifft sich, man unterhält sich – auf sehr hohem Niveau, was diesem Mann des Geistes großes Vergnügen machte. Er gilt als schwieriger Mann, als Hypochonder bis zum Exzess. Sein Pulsschlag ist ihm wichtiger als alles andere. Allen Aufregungen geht er aus dem Weg. Wird ein Gespräch für ihn anstrengend, steckt er sich Stöpsel in die Ohren. Kein Viktorianer kultivierte eifriger als er das, was wir heute „Image“ nennen. Zum Ehemann ist dieser egozentrische Philosoph denkbar ungeeignet. Es soll trotzdem zu einer Art Heiratsantrag gekommen sein. Der Ort ist gut gewählt; man sieht das Paar nur aus der Ferne. Der gute Ruf bleibt so gewahrt. Der spätere Romancier Henry James beschreibt die Episode so, wie ein Onkel sie ihm erzählt hat: Mr. Spencer sei zwar völlig korrekt auf ein Knie gesunken und habe die Hand der Dame ergriffen, dabei allerdings auf die feierliche Geste verzichtet, seinen hohen Zylinder abzunehmen, ein Vorgehen, das aus ihrer Sicht diese Zeremonie wohl erfordert hätte. Und Henry James fügt hinzu: Man sollte meinen, dass man aus einer solchen Geschichte etwas hätte machen können.

Einen Roman vielleicht. Material ist reichlich vorhanden. Doch Spencer hat hohe Ansprüche. Moralische und intellektuelle Schönheit reichen nicht, um ihn anzuziehen, und dank der Dümmlichkeit der englischen Erziehungssystems, so befindet er, finde man beides nur sehr selten vereint in einer attraktiven Gestalt. Und für Attraktivität hat der glatzköpfige Philosoph durchaus Augen. Es habe, so wird er nach Jahrzehnten gestehen, die große Nase der Dame beim Küssen gestört, aber bis zu seinem Lebensende wird er in seinem Schlafzimmer eine Fotografie von Marian aufbewahren. Marian vermeldet schließlich, beide seien übereingekommen, dass sie nicht ineinander verliebt seien.

In dieser Situation trifft sie auf den Mann, der ihre große Liebe werden sollte: George Henry Lewes. Der von seiner Ehe Enttäuschte fand nämlich damals Trost in der Gesellschaft des Philosophen, und Spencer fand Freude an der Gesellschaft des gebildeten und unterhaltsamen Lewes. Man trifft sich, man unterhält sich – und Marian Evans fängt an, ihn zu lieben, denn Lewes‘ Charme gleicht dem John Chapmans: er ist unwiderstehlich. Marian zieht aus dem Hause Chapman aus, nimmt sich mit Lewes eine Wohnung. Der erste Schritt ist getan – auch er Stoff für Romane, dann ergreifen beide die Flucht aus London und gehen auf Reisen in der Hoffnung, dass der Skandal unterdessen abebben wird, die Wogen sich glätten.

Fortsetzung folgt

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert