Eine der größten ihres Fachs: George Eliot – ein Porträt. Teil 1

Als weiblicher Shakespeare wurde sie verehrt, aber auch als „Stinkbombe der Menschheit“ abgeurteilt: An George Eliot schieden sich die Geister. Aber immer noch zählt sie zu den größten Romanschriftstellerinnen zumindest ihrer Zeit, wenn nicht der Literaturgeschichte überhaupt. Eine Frau, deren Leben sich selbst wie ein Roman liest. Hier das erste Kapitel dazu.

1855, Park Shot Nr. 8 in Richmond, einem Vorort von London. In einem kleinen Wohnzimmer sitzt ein Paar und schreibt um sein Leben, ein Paar, das es eigentlich gar nicht geben dürfte, vor allem nicht in dem sich als sehr moralisch verstehenden viktorianischen Zeitalter. Sie, Marian Evans, Mitte dreißig, ist, wie wir heute sagen würden, Wissenschaftsjournalistin und schreibt Aufsätze und Rezensionen für die renommierte Westminster Review, er, zwei Jahre älter, George Henry Lewes, ist Sachbuchautor und arbeitet an einer Bibliographie, der ersten in englischer Sprache. Die Nerven liegen blank, die Wohnverhältnisse sind beengt, ein weiteres Zimmer zum Arbeiten gibt es nicht. In späteren Jahren wird sie bekennen, dass schon das Kratzen seiner Schreibfeder sie an den Rand des Wahnsinns gebracht habe.

Und sie müssen schreiben, beide sind freiberuflich tätig, die Aufsätze in der Westminster Review umfassen nicht selten zwanzig Druckseiten, und für den Arbeitsaufwand für solche Essays sind die Tantiemen verschwindend gering. Sie belaufen sich für dieses Jahr auf 120 Pfund, Lewes verdient 300, muss aber für den Unterhalt seiner Frau 250 davon ausgeben, denn er ist verheiratet, und an eine Scheidung ist nicht zu denken, auch wenn die Ehe nur noch auf dem Papier besteht, dort aber gewissermaßen in ehernen Lettern geschrieben. Sie hat mehrere Kinder, die allerdings nicht alle Mr. Lewes zum Vater haben. Mit seinem besten Freund, Thornton Hunt, hatte er eine offene Beziehung begründet. Die Folge: Agnes Lewes bekommt ein Kind von Thornton. Doch man ist ja befreundet. Ein Lapsus. Lewes vergibt. Ein zweites Kind aus derselben Liaison ist schon viel schwerer zu akzeptieren, doch so ist das Scheidungsrecht in England nun einmal. Eine Tat, die verziehen ist, kann im Wiederholungsfall kein Scheidungsgrund sein. Selbst ein drittes Kind ändert an der Lage nichts. Außerdem hat Thornton auch noch mit seiner eigenen Frau ein weiteres Kind. Und Lewes bleibt gebunden, auch als er mit Marian eine neue Verbindung eingeht. Eine wilde Ehe, von der Londoner Gesellschaft spöttisch beäugt. Das Paar kommt von einer Deutschlandreise zurück, die eine Flucht war – eine Flucht vor der bigotten englischen Gesellschaft, die derartiges nicht dulden kann und will.

Und diese Gesellschaft zieht sich zurück, das Paar wird geächtet, auch wenn Marian alles tut, um nach außen hin, vor allem in der Nachbarschaft, als verheiratete „Mrs. Lewes“ zu gelten. Jane Carlyle, die Frau des Philosophen und Dichters Thomas Carlyle, der zu den großen Weisen seiner Zeit gehört, erwägt, ob man diese Dame, die durch ihre Leistungen als Schriftstellerin zur intellektuellen Elite zählt, besuchen dürfe, und kommt zu dem Schluss, dass nicht. Dabei sollte gerade sie Verständnis haben, denn sie kennt sich aus mit dem Gebaren der Männer in diesen Kreisen. Ihr eigener Mann hat eine Geliebte. Der Romancier Edward Bulwer-Lytton hat seine Frau in einer Irrenanstalt unterbringen lassen und hält sich wechselnde Geliebte. Charles Dickens verließ seine Frau, mit der er 16 Kinder hatte, einer jüngeren Amateurschauspielerin wegen und zieht öffentlich seine Ehe in den Schmutz. Jane Carlyle, die Frau von Thomas und nicht auf den Mund gefallen, prägt ein geflügeltes Wort für Männer wie ihn: Sie spielten mit den Frauen den „dickens“; „übel mitspielen“ wäre eine milde Übersetzung. Doch Quod licet iovi, non licet bovi, Männer und Frauen haben in der Gesellschaft beileibe nicht dieselben Rechte.

Doch acht Jahre nach dieser prekären Situation hat sich das Blatt gewendet. Das Paar, immer noch nicht verheiratet, hat längst ein großes Haus bezogen, ist zu Wohlstand gekommen und hält regelmäßig Hof in London und wird hofiert wie ein Königspaar.

London, Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts, North Bank Nr. 21 am Regent’s Park: die sogenannte Priory, ein etwas zurückgesetzt liegendes, ruhiges Haus in einer ebenso ruhigen Seitenstraße, freistehend – für London keine Selbstverständlichkeit -, umgeben von Bäumen und einem Garten. Die Zeit: Sonntagnachmittags, Jour fixe. Vornehme Gesellschaft tummelt sich in dem Haus, das einige Jahre lang ein Zentrum der intellektuellen Welt Londons ist. Charles Dickens kommt zu Besuch, Henry James, Trollope, Wilkie Collins, Browning, Lord Tennyson hält eine Lesung. Der Herr des Hauses, George Henry Lewes, der generellen Meinung nach der hässlichste Mann Londons, macht die Honneurs, ist unermüdlich unterwegs, sorgt für die Gäste. Im Zentrum eine seriös gekleidete Dame, ruhig, zurückhaltend, umgeben von einem Hauch Unnahbarkeit; eine Göttin, oder doch zumindest eine Halbgöttin. Junge Frauen versuchen, wie unabsichtlich ihr Kleid zu streifen oder dreist und absichtlich ihre Hand zu küssen. Der Dame des Hauses ist das nicht ganz angenehm, aber ihr Ruhm ist groß. Selbst Mitglieder des englischen Königshauses bitten um Zulassung zu diesem erlauchten Kreis. Die Honorouble Mrs. Henry Frederick Ponsonby, Enkelin des Earl Grey und einstmals Ehrenjungfer am Hof der Königin Viktoria, urteilt, während ihrer Zeit bei Hof sei kein Potentat der Welt mit solcher Ehrfurcht behandelt worden. Eine Atmosphäre, die natürlich nicht ohne ironische Kommentare bleibt. Kein Geringerer als Charles Dickens bemerkt: Er hoffe, am Sonntag den Gottesdienst in der Priory besuchen zu können. Die Dame des Hauses: an Hässlichkeit dem Hausherrn gewiss in nichts nachstehend, wird ihr nachgesagt: Sie hat eine flache Stirn, matte graue Augen, eine große vorstehende Nase, einen riesigen Mund voll unregelmäßiger Zähne und ein Kinn und einen Kiefer, die nicht enden wollen. Aber dieser Eindruck ist rasch vergessen, denn es muss von dieser Person zugleich ein Zauber ausgehen. In „dieser immensen Hässlichkeit“, so der Romancier Henry James, habe eine „überaus mächtige Schönheit“ gewohnt, die „in wenigen Minuten den Sinn bezaubert“ habe, so dass man sich in sie verliebt habe, so wie er selbst. Der Name der Göttin: George Eliot, ein Pseudonym. Ihr richtiger Name: Mary Anne Evans. George Eliot ist bereits jetzt, nach nur vier Romanen, für viele die größte Romanschriftstellerin ihrer Zeit…

Fortsetzung folgt

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