Von allen literarischen Formen ist das Gedicht die komprimierteste, und unter allen Gedichten ist das Haiku das dichteste. In deutscher Sprache gerade einmal siebzehn Silben auf drei Zeilen verteilt, ein Nichts, ein Hauch an Worten, eine Fülle an Anspielungen, die der Leser in Assoziationen verwandeln muss – die Minimal Art unter den Dichtwerken. Und Werner Pokorny, der Bildhauer, ist in der bildenden Kunst ein Minimal Artist, nicht weil er in die Gruppe der Sol Lewitts, Dan Flavins oder Donald Judds gehörte, sondern weil er sich wie nur wenige Künstler Jahrzehnte lang auf wenige Formen beschränkt hat wie das Haus oder die Schale. Ein Künstler wie er scheint geradezu auf eine Begegnung mit der Minimal Art der Dichtung gewartet zu haben, jetzt liegt sie vor, mit Haikus von Jürgen Glocker.
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Ein Plädoyer fürs Theater, welcher Spielart auch immer: Sebastian Hartmann inszeniert den Bühnenklassiker „Der Raub der Sabinerinnen“
Er gilt als Inbegriff des Schmierenkomödianten, der bedenkenlos Frauenrollen in Männerpartien umschreibt: Emanuel Striese, Direktor einer Wandertheatertruppe im „Raub der Sabinerinnen“ von Franz und Paul von Schönthan. Er ist aber auch ein alter Theaterfuchs, der weiß, das nicht durchfallen kann, was gestrichen ist. In Halle hat er es sogar zu Denkmalsehren gebracht, im Film hat ihn Gustav Knuth verkörpert. Gespielt wird das Stück meist auf der Boulevardbühne, in letzter Zeit nehmen sich aber auch die Staatstheater des Klassikers an wie jetzt das Schauspiel Stuttgart.
Manuel Harder, Peter René Lüdicke. Foto: Conny Mirbach
Theater oder Film oder alles auf einmal und noch vieles mehr? Das Schauspiel Stuttgart im Autokino Kornwestheim
Dass unter der Intendanz von Armin Petras am Schauspiel Stuttgart nicht nur reguläre Theaterstücke auf den Spielplan kommen, sondern besonders oft Romane, ist inzwischen Stuttgarter Theateralltag; auch Filme wurden schon für die Stuttgarter Bühne bearbeitet, und nicht immer erwiesen sich diese Kunstformen als bühnentauglich. Warum also nicht gleich in einem Kino Theater spielen, zumal Kinos früher ja auch „Filmtheater“ hießen. Doch was René Pollesch jetzt im Autokino Kornwestheim kreierte, war mehr als eine Adaption auf fremdem Terrain, es war eine theater-filmische Tour de force à la bonheur.
Christian Schneeweiß, Manuel Hard, Abak Safaei-Rad. Foto: Conny Mirbach
Zwischen Sitcom und Comedianwelt – Sebastian Baumgarten inszeniert Gogols Tote Seelen
Löcher im System kann man stopfen, man kann sie aber auch ausnutzen. Über Letzteres schrieb Nikolai Gogol einen ganzen Roman: Weil die russische Bürokratie zu Zarenzeiten nicht die schnellste war, blieben Leibeigene auch nach ihrem Ableben noch lange auf der Steuerliste, zum Unwillen der Gutsbesitzer – bis Schlauberger Tschitschikow auf die Idee kommt, sie ihnen abzukaufen, die Besitzer also von der Steuer zu entlasten und seinerseits die „toten Seelen“ auf dem Markt als lebendige Arbeitskräfte gewinnträchtig an den Mann zu bringen. Ein Schelm, wer dabei an die Bankenkrise mit ihren Investmentpaketen und Schrottimmobilien denkt.
Hanna Plaß, Paul Grill, Wolfgang Michalek, Michael Stiller, Svenja Liesau, Horst Kotterba, Christian Czeremnych. Foto: Bettina Stöß
Freud und Leid des Landlebens: Elizabeth Gaskells Frauen und Töchter
In Literaturgeschichten rangiert sie im Schatten eines Charles Dickens: Elizabeth Gaskell, auch Mrs. Gaskell genannt, die mit Romanen über die Welt der Arbeiter vor allem von sozialhistorisch engagierten Literaturkritikern geschätzt wird. Doch die Themen, die sie in Werken wie Mary Barton, einem der ersten englischen Industrieromane über den Chartistenaufstand in Manchester und die katastrophalen Lebensbedingungen des Industrieproletariats aufgriff, sind heute, trotz literarischer Qualitäten, doch eher Stoff für die Wissenschaft. Mit ihrem letzten (bis auf wenige Seiten noch von ihr vollendeten) Roman griff sie scheinbar zurück in die Provinzwelt einer Jane Austen, und doch hielt der große Literaturkritiker Laurence Lerner ihren Roman Frauen und Töchter für den unterschätztesten Roman der englischen Sprache. Vor 150 Jahren ist sie kurz vor Vollendung dieses Romans gestorben.
Zwischen Alter und Neuer Welt: Jürgen Glockers Roman über einen Amerikaner im Schwarzwald
Als der Baron de Montesquieu zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine kritische Bestandsaufnahme seines Heimatlandes veröffentlichen wollte, die alles andere als positiv ausfallen sollte, erfand er zwei Perser, die in ihren Briefen in die Heimat von ihren Erfahrungen in diesem für sie doch recht sonderbaren Land Frankreich berichteten (im 20. Jahrhundert wählte Herbert Rosendorfer für seine bayrische Heimat einen chinesischen Mandarin). Jürgen Glocker, Kulturreferent des Landkreises Waldshut-Tiengen, der schon mit einem amüsanten und zugleich gesellschaftskritischen Roman über einen Kater hervorgetreten ist, der das Leben eines kinderlosen Ehepaars durcheinander wirbelt, wählte einen weniger exotischen Reisenden: Er schickt einen amerikanischen Linguistikprofessor in seine Heimat, den Südschwarzwald.
Eine einzige Lebenslüge: Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ am Schauspiel Stuttgart
Hat er überhaupt jemals richtig gelebt, dieser Willy Loman? 36 Jahre hat er sein Land als Vertreter bereist, bis er feststellen muss, dass er in seinem Beruf ein Versager war und nicht mehr die Kraft hat weiterzumachen. Von seinem Chef wird er in die Arbeitslosigkeit gestoßen, und das heißt in der amerikanischen Gesellschaft, in der nur der gesellschaftliche Aufstieg zählt, ins Nichts. Es bleiben ihm zwei Möglichkeiten: die Flucht ins endgültige Nichts, den Tod, oder die Flucht in die Selbstlüge. Beides exerziert Arthur Miller in seinem Klassiker über den „Tod eines Handlungsreisenden“ vor. Robert Borgmann hat am Schauspiel Stuttgart für beides erregende Bilder gefunden.
Auf dem Bild: Susanne Böwe, Peter Kurth, Mabolo Bertling, Manuel Harder. Foto: Julian Röder
In die Tiefen der Seele. Zum 100. Todestag des amerikanischen Erzählers Henry James
Seine Romane spielen dort, wo man sich unterhält: in Salons, auf Spazierwegen. Henry James ist der Meister der Konversation. In seinen Romanen wird nicht gehandelt, da hält man die Augen offen – und redet über das, was man gesehen hat oder gesehen zu haben meint. So hat der Roman „Die Gesandten“, den James für seinen besten hielt, nur ein Thema. Der Amerikaner Lambert Strether, seit langem verwitwet, grundsolider Bürger der Vereinigten Staaten, steht vor seiner Verehelichung mit einer reichen amerikanischen Witwe, soll zuvor jedoch noch deren Sohn wieder auf den rechten Pfad bringen, was heißen soll: ihn den Fängen der verderbten französischen Gesellschaft (und deren Frauen) entreißen und ins puritanische Amerika zurückbringen.
Wenn aus Frauen Hyänen werden: John von Düffels Antikenstück in Stuttgart
Welche Dramatik! Eine halbe Stunde lang liefern sich zwei Frauen mit Wort und Mimik einen Kampf bis aus Blut – Mutter und Tochter. Auf der einen Seite Klytaimnestra, die ihren Gatten Agamemnon ermordet hatte, um mit ihrem Geliebten Aigisthos gemeinsam als Ehepaar auf dem Thron zu sitzen, auf der anderen ihre Tochter Elektra, die nur ein Ziel hat, den Mord an ihrem Vater zu rächen. Solche Charaktere und Konstellationen sollte erst zwei Jahrtausende nach Euripides, Sophokles und Aischylos ein Shakespeare wieder auf die Theaterbühne bringen mit einem Ehepaar Macbeth, das aus Ehrgeiz vor keinem Mord zurückscheut.
Egotrips für Regisseure. Das Schauspiel Stuttgart unter Armin Petras
Zu lang, befand das Darmstädter Opernpublikum; die Theaterleitung reagierte prompt und kürzte Rossinis „Barbier von Sevilla“, obwohl der mit knapp drei Stunden Spieldauer ohnehin nicht zu den längsten Opern zählt. Nicht so das Schauspiel Stuttgart unter Intendant Armin Petras. Er und seine Regie führenden Kollegen sammeln offenbar Einfälle zu ihren Inszenierungen, bis diese schließlich vier oder fünf Stunden dauern, wenn nicht gar mehr. Weiterlesen







