Endzeitvision zum Ende einer Intendanz: Toshio Hosokawas Erdbeben.Träume hat Uraufführung an der Oper Stuttgart

Es ist einer der grausamsten Texte deutscher Literatur zumindest des 19. Jahrhunderts. In fast klinisch aseptischer, neutraler Sprache berichtet Heinrich von Kleist vordergründig von einem Erdbeben in Chili. Doch in Wirklichkeit beschreibt er eine Apokalypse: der Welt durch eine Naturkatastrophe, der Menschlichkeit durch das Volk, das durch die Angst im Dienste einer rigiden Moral zum mordenden Mob wird. Marcel Beyer hat diese Erzählung zu einem Opernlibretto verdichtet, der Japaner Toshio Hosokawa hat sie in ein operndramatisches Klangereignis verwandelt. Jossi Wieler verabschiedete sich von seiner Opernintendanz mit einer eindringlichen Mahnung an die Menschheit.

Dominic Große (Jeronimo), Esther Dierkes (Josephe Asteron), Sachiko Hara (Philipp), Kinderchor der Oper Stuttgart, Benjamin Williamson (Anführer der sadistischen Knaben). Foto: A.T. Schaefer

Bei Kleist bricht das Inferno erst mit den erschütternden Stößen des Bebens aus und verwandelt die Stadt in eine Wüste, bei Beyer und Hosokawa ist sie bereits Wüste vor dem Naturereignis. Von „verschobener Welt“ ist da die Rede, von trockener Luft, fehlendem Oberlicht. Anna Viebrock hat hierfür als Bühnenbild eine Betonneubauruine bauen lassen, ein Widerspruch in sich, ist hier doch das neu Entstehende bereits dem Verfall anheimgegeben, ganz so wie es Beyers oftmals expressionistisch aufgeladener Text nahelegt, und wie es Hosokawa komponiert hat. Aus dem Orchestergraben scheint von den Streichern ein Wind zu wehen, nicht ein leichtes Säuseln, sondern ein gefährlicher leiser Gifthauch. Dazu intoniert der Chor, unsichtbar, jene zitierten Endzeitvisionen. Ungeziefer hat diese Welt bereits im Griff, Kinder kriechen als Kammerjäger aus Löchern im Erdboden. Die Menschen sind eine johlende, dem hohlen Vergnügen frönende Masse, in der Gewalt herrscht, Frauen sich allein nicht ohne „Pfefferspray“ auf die Straße trauen.

Wenn bei Kleist ein Liebespaar zum Tod verurteilt wird, weil es unehelich ein Kind gezeugt hat, kann sich die eifernde Masse noch auf herrschende Moral berufen, in der Welt dieser Oper scheint es eher so, als werde hier Willkür geübt. Jede feste Verankerung fehlt – und wird auch nicht gewährt, im Unterschied zu Kleists Erzählung, in der sich am Ende ein Ehepaar, dessen Kind vom Mob zerschmettert wurde, des Babys annimmt, dessen Eltern der Wut der Meute zum Opfer gefallen sind. Hier deutet sich Geborgenheit nach der Katastrophe an, nicht so bei Beyer, bei dem der Säugling zum Teenager Philipp herangereift ist und traumatisiert stumm erfahren muss, dass seine Eltern nicht seine leiblichen sind.

 Sachiko Hara (Philipp). Foto: A.T. Schaefer

Er wird zur heimlichen Hauptfigur, ohne einen Ton von sich zu geben, weil er in Träumen seiner Herkunft nachspürt. Fast ungläubig besieht er, was sich ihm da offenbart, streichelt vorsichtig dem Baby im Schoß seiner leiblichen Mutter über den Kopf, seinem eigenen Ich in jenen Tagen der Zerstörung – eine faszinierend menschliche Anwandlung in einer unmenschlich gewordenen Welt. Sachiko Hara verkörpert diese heimatlose Verlassenheit faszinierend.

Beyers Text und Hosokawas Musik erzählen keine Geschichte, sondern evozieren Situationen und Atmosphären. Die Handlung liefert die Regie und Figurenführung von Jossi Wieler. Er deutet die Zeugung des Kindes an, die Einkerkerung, die Bereitschaft der Massen, sich von den Aufrufen eines Demagogen zu Mord aufwiegeln zu lassen. Waren unmittelbar nach dem eigentlichen Erdbeben, das für den Japaner Hosokawa untrennbar mit der Katastrophe von Fukushima verbunden ist, die bunten Kleider der Menschen wie atomarer Niederschlag vom Himmel geflattert, so rotten sich jetzt die Menschen wieder zusammen und suchen, statt Erklärung für den Verfall der Gesellschaft in sich selbst zu entdecken, Sündenböcke, mit denen sie die Erdzerstörung „erklären“, weil „begründen“ können. Wieler, Beyer und Hosokawa zeichnen eine Endzeitwelt mit allen möglichen Entmenschlichungen, in der Esther Dierkes als Mutter des Säuglings mit klagender Stimme eine Elegie singt und André Morsch durch den schlichten Einsatz seiner wohltönenden Stimme dem Humanitätsgedanken Ausdruck verleiht.

Das Unheimliche, Bedrohliche, das sich in leisen Klängen ebenso niederschlägt wie in lautem Schlagzeug, realisiert Sylvain Cambreling mit dem Staatsorchester subtil; er fügt die Klangwelten zur Einheit zusammen, und der von Christoph Heil einstudierte Chor, der stellenweise die Hauptrolle in dieser Oper einnimmt, beweist wieder einmal, dass er zu Recht 2017 wie schon in früheren Jahren so oft zum besten Chor gekürt wurde.

So mindert die Ästhetik von Musik und Bühne das Grauen, und lässt doch in jeder Sekunde dieser rund hundert Minuten währenden Apokalypse nicht vergessen, dass hier ein Menetekel in letzter Minute auf die Bühne kommt. Man muss es nur wahrnehmen.

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