Liebe im Totalitarismus. Beethovens „Fidelio“ in der Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito

Zehn Jahre lang mühte sich Ludwig van Beethoven mit seiner einzigen Oper ab. Erst hieß sie „Leonore“, dazu schrieb er drei Ouvertüren, schließlich entstand „Fidelio“ mit einer ganz neuen Ouvertüre. Es ist ein Loblied auf eheliche Treue, denn Leonore rettet, als Mann verkleidet, ihren Mann Florestan aus dem Willkürgefängnis des Gouverneurs Pizarro. Und auch Regisseure tun sich mit dem Werk schwer, nicht zuletzt wegen der langen Dialoge, die vielen als Inbegriff plumper Biederlichkeit gelten. Manche Dirigenten verzichten ganz darauf. Nicht so Jossi Wieler und Sergio Morabito in ihrer neuen Stuttgarter Inszenierung. Sie lassen sie ungekürzt.

Fidelio von Ludwig van Beethoven 25. Oktober 2015 Musikalische Leitung: Sylvain Cambreling Regie und Dramaturgie: Jossi Wieler, Sergio Morabito Bühne: Bert Neumann Kostüme: Nina von Mechow Licht: Lothar Baumgarte Chor: Johannes Knecht Auf dem Bild:

Rebecca von Lipinski (Leonore), Michael König (Florestan). Foto: A.T. Schaefer

Eine Zeile in Beethovens Oper diente dieser Inszenierung als Leitmotiv. „Sprecht leise“ so heißt es in dem berühmten Gefangenenchor, „haltet euch zurück, wir sind belauscht mit Ohr und Blick“. Diese Zeile, so entdeckten die Regisseure Jossi Wieler und Sergio Morabito, enthält im Kern die ganze Überwachungsstaatsmentalität moderner totalitärer Systeme, und um totalitäre Kontrolle geht es in dieser Oper. Gouverneur Pizarro will über jedes Detail in dem von ihm kontrollierten Staatsgefängnis herrschen, vom seltenen Hofgang bis hin zum zusätzlichen Stückchen Brot für die Gefangenen. Entsprechend martialisch lässt Dirigent Sylvain Cambreling bereits die Ouvertüre intonieren. Selten hört man, dass die Pauken und Blechbläser so scharf das musikalische Geschehen dominieren, wie hier.

Der während der Arbeit an dieser Oper verstorbene Bert Neumann hat dazu ein Bühnenbild geschaffen, das wie ein kaltes Labor der Macht wirkt. In gleißend hellem Licht, in dem kein Detail verborgen bleibt, begnügt er sich mit wenigen Kulissen: einer Hollywoodschaukel, um die biedere Welt von Gefängnisdirektor Rocco und seiner Tochter Marzelline anzudeuten, Fließbändern, auf die die Gefängnisangestellten in sinnloser Arbeit immer wieder Kartons stapeln, um die Eintönigkeit der Existenz in diesem Gefängnis plastisch erfahrbar zu machen – und Mikrophone. Unzählige hängen an dünnen Drähten vom Bühnenhimmel herab – „Wir sind belauscht mit Ohr und Blick“ eben, es fehlen nur noch die Kameras. Doch dafür steht in der Mitte eine Art Bunker mit Sehschlitzen, in dem man von Anfang an Geheimpolizisten vermutet, die das Geschehen mit Argusaugen beobachten.

Fidelio von Ludwig van Beethoven 25. Oktober 2015 Musikalische Leitung: Sylvain Cambreling Regie und Dramaturgie: Jossi Wieler, Sergio Morabito Bühne: Bert Neumann Kostüme: Nina von Mechow Licht: Lothar Baumgarte Chor: Johannes Knecht Auf dem Bild:

 Rebecca von Lipinski (Leonore), Daniel Kluge (Jaquino), Josefin Feiler (Marzelline). Foto: A.T. Schaefer

Selbst die Übertitel, die den Gesang an den Opernbühnen von heute verständlich nachvollziehbar machen, dienen diesem Konzept. Sie werden unmittelbar über den Sängern auf einer Tafel eingeblendet – immer mit einiger Verzögerung, als ob alles, was die Protagonisten von sich geben, mitgetippt und der Überwachung preisgegeben würde. Die Dialoge werden über Lautsprecher ungewöhnlich präsent in den Zuschauerraum verstärkt, als würde jede Silbe, die hier gesprochen wird, abgehört.

Beherrscht wird all das von einer einzigen Person – dem Gouverneur Pizarro. Man kann in ihm stellvertretend einen Stalin sehen, einen Hitler, doch solche platten Anspielungen versagen sich Wieler und Morabito. Lediglich am Ende verweisen sie kurz auf die Überwachungsmechanismen der Stasi in der ehemaligen DDR. Der Rettung bringende Minister gibt Fidelio/Leonore den Schlüssel, mit dem sie den ominösen Würfel in der Mitte öffnen kann, und siehe da: Er enthält keine Abhörpolizisten, sondern Berge von Akten und einen Shredder.

Wie alle Figuren in dieser Inszenierung hat auch Pizarro, der nicht selten einseitig als reiner Sadist auf die Bühne kommt, bei Wieler und Morabito mehrere Dimensionen: Er ist sich seiner Schuld bewusst, weiß aber auch, dass er nicht anders kann, als den Widersacher Florestan zu beseitigen, will er nicht selber an den Pranger gestellt werden. In einer grandiosen Charakterstudie singt und spielt Michael Ebbecke diesen Pizarro in einer Mischung aus eiskalter Perfidie und lähmender Angst.

Alles in dieser Welt ist dem Diktat der Macht unterworfen. Selbst die Gefängnisangestellten wie der Direktor Rocco tragen die gleiche Kleidung wie die Gefangenen, auch sie werden diesem Gefängnis nie entrinnen. Jede Szene, jede Bewegung in dieser Inszenierung ist durchdacht und stringent in eine faszinierende, wenn auch beklemmende Deutung von Beethovens Oper eingebracht. Wenn zu Beginn des 2. Aktes der durch Einzelhaft und Hunger dem Ende nahe Florestan seine große Arie singt – von Michael König stimmkräftig und ausdrucksstark gestaltet -, dann streicht er um den grauen Würfel in der Bühnenmitte herum, als traue er sich nicht, den freien Raum zu betreten. Wenn Rocco ihm einen Schluck Wein reicht, streichelt er ihm dankbar den Rücken, hängt sich an ihn wie ein kleiner Hund. Wenn Leonore in höchster Not mit der Pistole Pizarro entgegentritt, als dieser ihren Gatten Florestan erdolchen will, wirft sie die strenge Montur, in der sie sich als Mann ausgegeben hatte, ab: Jetzt wird sie zur wahrhaft liebenden Ehefrau. Hier dient jede Geste der psychologischen Charakterisierung. Pizarro hatte seinen Soldaten und Gefangenen eine lächerliche Habachtstellung eingeübt. Als am Ende der Minister die Freiheit bringt, versucht er, sie von dieser Haltung abzubringen. Es gelingt ihm erst nach mehreren Versuchen, so tief sitzt die Angst vor dem Gouverneur.

Die Dialoge, die von vielen Regisseuren gefürchtet werden, kommen in dieser Inszenierung ungekürzt zu ihrem Recht. Wieler und Morabito entdecken in ihnen dramatische Sprengkraft und zeigen, dass sie keineswegs so bieder harmlos sind, wie viele Regisseure meinen. Trotzdem: Hier hätte gelegentlich ein Rotstift Not getan, doch das ist der einzige Kritikpunkt an einer grandiosen, in sich schlüssigen Deutung eines musikalischen und – wie die Inszenierung deutlich macht – dramaturgischen Meisterwerks.

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