Malerei zwischen den Extremen. Martha Jungwirth

Abstrakte Malerei ist frei von jeglichem Bezug zur Gegenständlichkeit, so die Definition. Sie beschränkt sich auf Formen und Farbkombinationen, die ganz der inneren Gesetzmäßigkeit des Gemalten folgen, sie ist, sofern sie nicht geometrisch-konstruktivistischen Kompositionsprinzipien folgt, ganz Ausdruck der Körperlichkeit und Befindlichkeit des Künstlers. Doch ist sie auch frei von Bezügen zur Realität? Das Werk der österreichischen Malerin Martha Jungwirth ist seit Jahrzehnten geprägt von dieser Fragestellung. In einer Ausstellung im Kunstmuseum Ravensburg, der bislang umfassendsten dieser ohnehin erst seit rund zehn Jahren von der Kunstöffentlichkeit entsprechend gewürdigten Künstlerin, kann man dieser Dichotomie nachgehen.

Sie sind nicht mehr ganz jung, die Regentinnen eines Altmännerhauses, die Frans Hals 1664 porträtierte, Damen in würdiger Pose, die Geld für den Unterhalt der Pension einzutreiben hatten und nicht selten mit Spott bedacht wurden. Martha Jungwirth sah das Gemälde nicht im Original, sondern als Foto in einer Zeitschrift und war offenbar sofort fasziniert, vielleicht vom Sujet, denn sie hatte kurz zuvor ein Serie über Damen gemalt, die ebenfalls um Geldspenden werben und es sich dabei am kalten Buffet gut gehen lassen. Vielleicht waren es aber auch die hellen Farbflecke der edlen Kragen auf den Gewändern vor dem tief dunklen Bildhintergrund, denn Farben stehen im Zentrum ihres Schaffens. Sie griff zum Pinsel und malte, was man eine Art moderne Paraphrase nennen könnte. Wer die Anregung zu diesem Bild nicht kennt, sieht abstrakte Farbflecken, wer die Verbindung herstellt, kann die hellen großen Kragen ausmachen, die dunklen Gewänder. Doch alles andere ist pures Farbgeschehen, das sich von der Ausgangssituation emanzipiert hat. Es ist abstrakte Malerei mit gedanklichem Hintergrund, und der ist eben gegenständlich, sogar figürlich.

Es ist ein typisches Bild für diese Künstlerin, und doch auch untypisch, denn derart deutliche Anklänge an das, was ihr Bild ausgelöst hat, finden sich selten.

Bei der kurz zuvor entstandenen Serie zu den Sponsorengelder eintreibenden reichen Damen ist diese gegenständliche Assoziation schon sehr viel schwieriger vorzunehmen. Man kann zwar mit einiger Fantasie in dem bunten Farbtreiben auf dem Papier eine mit Leckereien gedeckte Tafel erkennen, doch wäre eine solche Bildassoziation lediglich durch den Bildtitel Fundraising und das damit möglicherweise verbundene Klischee (oder auch Wirklichkeitsbild) eines Wohltätigkeitsfestes hervorgerufen, die Malerei an sich rechtfertigte derlei nicht.

Das Museum hat auf Informationsblättern die jeweiligen Anlässe für die meist in Serien entstandenen Bilder für den Besucher zusammengefasst. So kann man in der Farbwahl einer Serie über Istanbul die Dominanz eines kräftigen Rots auf das Foto eines Putschversuchs zurückführen oder in den grauen Aquarellflächen Nachklänge der steinernen Wassertröge sehen, die Martha Jungwirth auf den Kykladen entdeckte und die ihr die Inspiration zu einer Serie über Nausikaa lieferten, jener Königstochter, die in der Odyssee beim Wäschewaschen auf den gestrandeten Odysseus trifft.

Doch muss man als Betrachter all das nicht unbedingt wissen, denn alles, was Martha Jungwirth mit dem Pinsel auf Papier oder Leinwand entwirft, ist reines Farbgeschehen, und dieses Wort sollte man ernst nehmen. Hier scheint nichts fest zu sein, geronnen, alles scheint in Bewegung – ein Paradox, denn natürlich ist ein Bild fertig und unveränderlich, doch die Bilder von Martha Jungwirth fangen im Auge des Betrachters an, Leben zu entwickeln. Man meint, die Farben veränderten sich unablässig, gingen ineinander über, vermengten sich oder sonderten sich auch wieder ab. Wesentlich an dieser Malerei ist nicht selten, dass große Teile des Bildgrunds leer bleiben. Ihre Bilder sind Wechselspiele von Fülle und Leere. Daher ist man als Betrachter mit diesen Bildern auch niemals fertig. Ständig entdeckt man Neues, so als verwandelten sich die Kompositionen in einem fort. Proteus heißt ein Bild, zu dem der Ehemann der Künstlerin den Anlass bildete, betitelt nach dem Meeresgott der griechischen Antike, der vielerlei Gestalt annehmen konnte – der Titel könnte über allen Arbeiten von Martha Jungwirth stehen. Was sich an Farbgeschehen auf den Bildern von Martha Jungwirth im Auge des Betrachters ereignet – eine unablässige Verwandlung und Unabgeschlossenheit.

Und doch machen die Informationen über die Inspirationsquellen Sinn, denn all diese Bilder hatten ja einen ganz realen Bezug zu Dingen dieser Welt. Auf den mit Windsbraut betitelten Aquarellen mag man luftige Zaubergebilde aus Wind und Wolken erkennen, doch den Anlass (oder „Vorwand“, wie Martha Jungwirth formuliert) zu dieser Serie war ein Gemälde von Oskar Kokoschka mit demselben Titel. Was auf den Aquarellen von Martha Jungwirth davon übrigblieb, sind freilich rein ätherische Farbverläufe und -rhythmen. Die Farbverwandlungen auf ihren Bildern sind grenzenlos.

Grenzenlos aber ist auch ihr Umgang mit den unterschiedlichen malerischen Techniken. Ihre Ölgemälde weisen die typischen dicken Farbflecken auf, die dieser Malstoff üblicherweise hervorbringt, doch dann wiederum scheint die dicke Farbe sich in Farbwolken aufzulösen, was mit Ölfarbe herkömmlich nichts zu tun hat und eher an Temperabilder oder sogar Aquarelle denken lässt, deren Charakteristikum ja die Transparenz der Farbe ist, das Ineinanderfließen. Umgekehrt finden sich auf ihren Aquarellen neben einer Vielzahl an Farbvermischungen, -verbindungen und -auflösungen, die dieser Technik eigen sind, Farbtupfer und Striche von einer solchen Klarheit und Präzision, dass man eher an den Pinsel mit Ölfarbe zu denken geneigt ist. Da kann ein Aquarell sogar einmal die Düsterkeit und Opakheit annehmen, die man sonst nur von einer Zeichnung aus vielen Schichten dunkler, völlig untransparenter Pastellkreide kennt.

Martha Jungwirth ist eine Meisterin der Entgrenzung, der Befreiung. Sie befreit die abstrakte Malerei von ihrer Beschränkung auf die reine Gegenstandslosigkeit und löst die Anregungen zu ihren Bildern umgekehrt von ihrer Bindung an das Gegenständliche. Sie transzendiert die typischen Eigenschaften der Maltechniken und bildet so ein Kontinuum von Gegenstandswelt und Ungegenständlichkeit, von Stofffestigkeit und ätherischer Stofflosigkeit – ein Mysterium der Gegensätze und Widersprüche.

Martha Jungwirth. Panta Rhei“, Kunstmuseum Ravensburg bis 24.2.2019. Katalog 133 Seiten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert