Neue Kunst aus alten Räumen. Georges Rousse‘ Spiel mit den Dimensionen

Es gibt Künstler wie Christo, die Landschaften und Räume durch Eingriffe bis zur Unkenntlichkeit verändern. Es gibt Künstler wie Christian Boltanski, die sich auf Spurensicherung begeben. Georges Rousse ist beides, vor allem aber ist er Fotograf. Eine Ausstellung in der Städtischen Galerie Tuttlingen zeigt anschaulich, wie sich alle drei künstlerischen Techniken bei ihm zur perfekten Einheit fügen.

Blaues Licht breitet sich über einen Raum. Lediglich die Mitte ist von diesem farbigen Film ausgenommen: Hier zeigt das Bild den Raum, wie er sein sollte. Der Betrachter ist sich sofort einig: hier hat Georges Rousse am Computer über das Foto eine blaue Folie gelegt, deren Mitte sternförmig ausgeschnitten wurde und den Blick auf den Ram unverstellt frei lässt. Doch der Eindruck täuscht. Den Raum gibt es tatsächlich mit dem blauen Stern, Georges Rousse hat Teile des Bodens, der Wände und Fenster, ja sogar des Mobiliars so übermalt, dass sich der Eindruck eines Sterns ergibt, allerdings nur von einem ganz bestimmten Blickpunkt im Raum, an dem Rousse seine Kamera platziert hat. Auf sie ist alles bezogen, sie hält am Ende fest, was er mit dem Raum gemacht hat, und dieses Foto ist das eigentliche Kunstwerk. Insofern ist Rousse in allem, was er tut, Fotograf, das Objektiv ist gewissermaßen sein Auge, auf dieses Auge zielt alles in seinem Schaffen hin.

In Schloss Chambord hat er solche Eingriffe nicht auf Farbe beschränkt, sondern er hat in die Räume mit Spanplatten und Silberfolie ganze Gebilde eingesetzt und dann fotografiert. Auch in die Städtische Galerie in Tuttlingen hat er eingegriffen und mit diesem Eingriff geradezu mustergültig dargelegt, wie er vorgeht. An die Wand hat er in schwarzen Lettern das Wort UTOPIA malen lassen. Die schwarzen Balken der Buchstaben ziehen sich mal über die plane Wand, das wäre nichts Besonderes, sie verlaufen aber auch über Treppen und Säulen, sogar zwischen zwei Säulen hindurch. Um hier den Farbfluss nicht unterbrechen zu lassen, hat er einen kleinen schwarzen Strich an der dahinter liegenden Wand anbringen lassen. Aus allen Blickwinkeln im Raum wirkt der Schriftzug zerrissen, nur von einem einzigen Punkt aus ergibt sich lückenlos das Wort; es ist der Punkt, an dem seine Kamera stand.

Mit der Anbringung von Farbflächen in Räumen bewirkt Rousse aber nicht nur Verblüffung beim Betrachter, er spielt in erster Linie mit zwei Darstellungsformen, die radikal voneinander entfernt scheinen, denn da ist auf der einen Seite der Raum, dreidimensional, auf der anderen die Fläche, zweidimensional. Rousse nimmt dem Raum die Räumlichkeit und verleiht der Fläche zugleich etwas Räumliches. Das ist gleich mehrfach eine Quadratur des Kreises.

 

Danach ließ er einen großen roten und einen schwarzen Balken über die Zeitungen malen. Das ist eine doppelte Flächeneinzeichnung in den Raum. Schließlich fotografierte er das Werk. So vielschichtig dürfte bisher kaum eine Arbeit im Schaffen des inzwischen Siebzigjährigen sein.

Nicht genug damit: Er ließ sich bei seiner Arbeit von Jungendlichen helfen, Migranten, die vorübergehend in dem Gebäude Platz gefunden haben. Zwar hat er schon mehrfach mit jugendlichen Helfern gearbeitet, noch nie aber derart international, und auch Zeitung hat er noch nie verwendet. Hier gehen Mitarbeiter und eingesetztes Material (Zeitungen aus allen Kulturkreisen) eine Einheit ein.

Mit der Wahl des Raums, des alten Bahnhofs, führte Rousse eine weitere Facette seines Schaffens fort. Stets sind es alte Orte, in denen er seine Eingriffe vornimmt, Orte mit einer Geschichte, die aber in der Regel längst schon ihr Ende gefunden hat. Daher liebt er auch das Wort Utopia in seinen Arbeiten – auf deutsch: kein Ort.

So bilden im Schaffen von Georges Rousse die unterschiedlichsten Strömungen der zeitgenössischen Kunst eine unauflösliche Einheit – und der Betrachter kommt aus dem Staunen nicht heraus angesichts dieses subtilen Spiels mit Dimensionen, Orten und Historien.

Georges Rousse“, Städtische Galerie Tuttlingen bis 12.2.2016

Hierzu findet sich auf Youtube ein Film von Horst Simschek und mir

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