Philosophisch verbrämt: E. O. Chirovicis Buch der Spiegel

Ein Blick auf die Rezensionsseiten unserer Zeitungen lässt die Geburt eines Meisterromanciers vermuten. Da erkennt man – zumal in den deutschen Feuilletons – Anklänge an einen Marcel Proust, da werden Verwandtschaftslinien zum großen Nabokov gezogen. Dabei ist E.O. Chirovici kein Newcomer; in seiner rumänischen Heimat hat er bereits einige Romane verfasst, jetzt hat er, der seit 2012 in den USA lebt, seinen ersten Roman in englischer Sprache geschrieben und in ihm selbst die Fährten in Richtung dieser beiden Autoren gelegt, denn zum einen ist sein Roman perspektivisch durchaus raffiniert konstruiert, da mag man an einen Nabokov denken, zum zweiten spielt er in den letzten Zeilen seines Romans selbst an den großen Meister der literarischen Erinnerung an.

Und darum geht es denn auch in erster Linie in seinem Buch. Alles ist in der Rückschau geschrieben – die Erinnerungen eines erfolglosen Schriftstellers an seine Studienzeit in Princeton, der Bericht über die erfolglose Recherche eines Journalisten nach dem, was dieser Schriftsteller möglicherweise hinterlassen hat, sowie der abschließende Bericht eines ehemaligen Polizisten über einen Aufsehen erregenden Mord im Jahr 1987.

Es ist der Schock eines jeden Literaturagenten, wenn er nach der Lektüre von faszinierenden 125 Seiten feststellen muss, dass an eine Veröffentlichung des Buches nicht zu denken ist, denn der Rest der Leseprobe, die ihm der als Schriftsteller unbekannte Richard Flynn geschickt hat, bleibt verschollen, der Autor ist verstorben. Was nun folgt, ist der Versuch dieses Agenten, des mutmaßlichen Meisterwerks doch noch habhaft zu werden, mithilfe des zwar bemühten, aber erfolglosen John Keller, und die Aufklärung jenes Mordes.

Ein Geschehen berichtet aus drei Perspektiven, das ist natürlich eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie nah an der Wahrheit der Bericht eines Menschen ist. Jeder Verkehrspolizist weiß, wie oft die Farbe eines Autos von unterschiedlichen Zeugen unterschiedlich beschrieben wird. So ist es auch hier. Mal ist der ermodete Professor, der im Auftrag des Staates geheimnisvolle Untersuchungen über die menschliche Erinnerung durchführt, am Abend seines Todes nur in Gesellschaft des jungen Richard Flynn gewesen, dann wieder sollen sich zwei Personen auf dem Anwesen des Professors herumgetrieben haben. Mal soll die ehrgeizige Studentin Linda Baines ein Verhältnis mit dem Professor gehabt haben, dann wieder ist sie zumindest in dieser Hinsicht unschuldig. Dafür soll sie ein Manuskript des Professors an sich genommen und als eigenes Werk später bei einem Verlag zum Erfolg geführt haben und und und.

Das liest sich interessant, kann man auch durchaus mit der Metapher der ständigen Spiegelung umschreiben, ist aber letztlich nicht viel mehr als das, was jeder Krimi dem Leser bietet: Eine Mischung aus sachdienlichen Hinweisen und falschen Fährten. Insofern ist jeder Krimi eine philosophische Auseinandersetzung mit der Frage nach Wahrheit und Täuschung in Form eines Romans.

Als Motto zitiert Chirovici Oscar Wilde, dem zufolge die meisten Menschen nicht sie selbst seien, doch diese Erkenntnis ist streng genommen auch Inspirationsquelle für einen Roman einer Rosalinde Pilcher. Je mehr sich der Roman seinem Ende nähert, umso weniger rätselhaft wird er, von philosophisch ganz zu schweigen. Dabei hätte Chirovici seinem hochgesteckten erkenntnistheoretischen Ziel durchaus nahe kommen können. Der erste Teil ist raffiniert in allen seinen Wendungen, weil diese nicht unterschiedlichen Erzählperspektiven zuzuschreiben sind: In diesem ersten Teil des Romans hält Flynn die Erinnerungen an seine Studienzeit fest, in denen ein Professor auftritt, dem es in seinen Forschungen um eben das geht: das Funktionieren unseres Gehirns und dessen Scheitern. Die plötzlich in seinem Leben auftauchende Linda erweist sich von Woche zu Woche als geheimnisvoller, und ob Flynn am Ende seine Memoiren geschrieben hat oder einen Roman, der mit der Realität spielt, bleibt offen. Hätte der Journalist Keller nicht einfach nur Schritt für Schrit nach dem verschollenen Manuskriptrest gesucht, sondern den Romanfang von Flynn aus seiner eigenen Fantasie vollendet, dann wäre im dritten Teil der ehemalige Polizist konfronitert gewesen mit zwei fiktiven Berichten über ein Geschehen, das tatsächlich passiert ist und das er mit seinem professionellen Sachverstand untersucht hatte. Dann wäre in der Tat ein Buch der Spiegelungen entstanden, in denen jede Seinsebene auf ihre innewohnenden Gesetzmäßigkeiten hätte abgeklopft werden können. So hätte es ein Nabokov getan. Oder er hätte am Ende dieses Romans den Beginn eines fiktiven Romans stellen können, das aus all den geschilderten Irrungen und Wirrungen heraus neu entstehen könnte, damit wäre er in die Nähe eines Proust gelangt. So aber befindet er sich in der Gesellschaft begabter Krimiautoren – das ist das Schlechteste nicht. Dann aber hätte er sich versagen sollen, allzu viele unnötige Details zu beschreiben, die in der realen Wirklichkeit passieren, aber nicht in ein Buch gehören. Selten gehen in einem Roman derart viele Figuren nach draußen, nur um eine Zigarette zu rauchen.

E.O. Chirovici, Das Buch der Spiegel. Goldmann Verlag. 382 Seiten, 20 Euro

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