Textile Vielfalt im deutschen Südwesten – am Beispiel Esslingen

Deutschland ist reich an so genannten Industriedenkmälern. Sie zeugen von einer wirtschaftlichen Blüte, die einst ganze Regionen prägte wie die Kohleindustrie im Ruhrgebiet und die inzwischen Opfer der wirtschaftlichen Entwicklung geworden ist. Heute dokumentieren ehemalige Industrieanlagen diese Vergangenheit wie etwa die Völklinger Hütte im Saarland. Auch Esslingen am Neckar kann auf eine ruhmreiche industrielle Vergangenheit zurückblicken, die „Esslinger Wolle“ war europaweit ein Begriff, doch kein einziges Bauwerk zeugt heute noch von dieser Epoche. Eine Ausstellung im Esslinger Stadtmuseum schafft Abhilfe.

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Dabei gibt es sie wieder, – die Esslinger Wolle, man kann sie sogar in Esslingen kaufen, in einem Wollgeschäft am Marktplatz, produziert allerdings wird sie heute in Süßen bei Göppingen, denn die Esslinger Wollproduktion ist längst Geschichte – allerdings eine glorreiche. Die Ausstellung zeigt ein Werbegemälde von 1894, auf dem eine Art antike Göttin zwei Schafe krault, im Hintergrund ein stark stilisierter Blick auf Esslingen mit seinen Fabriken.

Einer der Gründer war ein kaufmännischer Tausendsassa, Emil Kessler. Er hatte bereits in Esslingen die noch heute bestehende Sektkellerei gegründet, in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts plante er die Gründung einer Spinnerei, zunächst mitten in der Altstadt, doch die Firma expandierte rasch und wurde auf dem Brühl im Neckar neu gebaut – wo sie die fünf Meter Höhenunterschied für die Wasserkraft ausnutzen konnte. Es war ein für die Zeit hochmodernes Unternehmen: Württ+Baumwollspinnerei (1200x816)Rund um die Fabrikhallen entstand eine regelrechte Siedlung für Arbeitskräfte mit einer Schule, einem Kinderhort, einem Waschsalon, sogar einer Badeanstalt – als Anreize für qualifizierte Arbeiter. 1857 nahm die Fabrik ihre Arbeit auf – mit über 400 Arbeitern, und dabei sollte es nicht bleiben.

Auch die Produktion fand unter modernen Bedingungen statt. Dank früher Gasbeleuchtung konnte abends länger gearbeitet werden, und die Nachfrage war groß, die Produkte waren begehrt.

Und damit nicht genug: Mit einem stillen Teilhaber und einem Handwerksmeister gründete Kessler die Produktionsstätte für die Esslinger Wolle, und auch sie nutzte moderne Möglichkeiten, etwa die Werbung. DSC04911 (900x507)Es entstand ein in ganz Europa bekanntes Logo: Zwei Frauen sitzen sich gegenüber, die eine hält einen Wollstrang, die andere wickelt ein Knäuel – ein Logo, das für Generationen von strickenden Hausfrauen zum Begriff wurde.

Und Esslingen hatte noch mehr zu bieten: In kleinerem Rahmen entstand eine Textildruckerei und eine Handschuhfabrik – sie alle profitierten vom Neckar, der durch Esslingen fließt, denn zur Färberei und Lederverarbeitung brauchte man neben der Energie viel Wasser.

Aus heutiger Sicht ein Kuriosum war die Haussegenstickerei Gustav Aeckerle, ein Unternehmen, das ganz für den Zeitgeschmack produzierte: Stickereien auf vorgelochten Pappkartons mit christlichen Sprüchen, vaterländischen Sinnsprüchen und Darstellungen zu Feieranlässen für familiäre Feste.

Damit war Esslingen Teil einer ganzen Reihe von Orten südlich von Stuttgart, in denen Textilien auf höchstem Niveau produziert wurde. Textilindustrie entwickelte sich in den Ortschaften, aus denen sich heute Albstadt zusammensetzt; diese Orte verfügten freilich nicht über Wasserkraft und mussten auf die Anbindung an die Eisenbahn warten, die die zur Energieerzeugung nötige Kohle brachte. In Sindelfingen fand die Jacquardstickerei ein Zentrum, Heubach stach mit einer Korsettfabrikation hervor, und wie im Fall der Esslinger Wolle mit einem gleichfalls klangvollen Namen: Triumph-Miederwaren. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts machte die Massenware aus Übersee zu Billigpreisen die heimische Produktion unrentabel, die meisten Firmen mussten die Produktion einstellen.

An vielen Orten finden sich heute noch Relikte dieser Textiltradition – etwa die Firma Pausa in Mössingen, deren Fabrikgebäude heute zum Teil denkmalgeschützt sind. Nicht so in Esslingen – hier zeugt kein einziges Haus mehr von dieser ruhmreichen Vergangenheit. Lediglich die Spuren, die die Unternehmerfamilie Merkel in der Stadt hinterlassen hat, zeugen noch von der großen Vergangenheit – mit der Villa Merkel und dem Merkelschen Schwimmbad in herrlichem Jugendstil. Doch das ist Privatgeschichte dieser Stadt, auch wenn die Gebäude heute längst der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen – als Kunstgalerie sowie zur sportlichen Ertüchtigung.

Textile Vielfalt. Industrielle Erfolgsgeschichten aus Württemberg“ – ein Ausstellungsprojekt in Reutlingen, Sindelfingen, Heubach, Mössingen, Albstadt und Esslingen. Jede Ausstellung zeigt einen allgemeinen historischen Teil und die jeweils ortsspezifische Textiltradition. Die Ausstellung im Stadtmuseum Esslingen bis 16. 5.2016. Katalog 76 Seiten 10 Euro

Zur Ausstellung findet sich auf Youtube ein Film von Horst Simschek und mir

 

Ein Gedanke zu „Textile Vielfalt im deutschen Südwesten – am Beispiel Esslingen

  1. Walter Neef

    Lieber Raimer Zerbst,

    kurz vor dem Zahnarztbesuch stoebere ich in Ihrem Blog. Esslingen und Waiblingen steht auf unserer Ahenda ganz oben. Ich verdanke Ihnen einen vertieften Zugang zu Kunst und Kultur. Unter dem Motto, lieber spaet als nie, will ich diese von Ihnen mir geschenkte Chance zu Entdeckung weiterer Kulturschaetze nutzen.
    P. S. Am Sonntag, den 20. Maerz sind wir in Mochental. Den Kuenstler Willibrord Haas kennen wir gut, haben etliche Werke von ihm.
    Seien Sie herzlich gegruesst, Ihr Fan Walter Neef

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