Vom Realen zum Möglichen: Künstler schaffen Räumlichkeiten

Es ist die große Domäne aller Kunst: Tun zu können „als ob“. Mag ein Gemälde der Außenwelt auch extrem nahe kommen wie in der Trompe l’oeil-Malerei, so bleibt sie doch eine Sphäre sui generis. Ganz anders die Architektur: Sie bedient sich des Als-ob, einer Zeichnung oder eines Modells als Vorstufe, doch ihre vornehmliche Arbeit findet im Bereich des Realen statt und muss den Gesetzen dieser Sphäre gehorchen. Wie es aussieht, wenn sich Künstler mit dem befassen, was die Architekten herstellen – Räumlichkeiten jeder Art – zeigt eine Ausstellung im Kunstwerk in Eberdingen.

Auf den ersten Blick wirkt alles ganz normal: Schauplatz Berlin Kreuzberg. Sinta Werner hat die Hochhausbauten dort von unten von der Straße aus fotografiert. Doch sogleich schleicht sich ein leichtes Unbehagen ein. Irgendetwas an diesen Häusern stimmt nicht, die Winkel wollen nicht zueinander passen, vorkragende Bauteile ragen spitz in die Luft, wo sie nicht hingehören. Die Gruppe Einstürzende Neubauten kommt einem in den Sinn. Hier scheinen Architekten keine Ahnung von Statik gehabt zu haben. Doch ist all das nicht den Bauspezialisten anzulasten, sondern geht auf das Konto der Fotografin: Sinta Werner hat von den Bauten, die sie fotografieren wollte, kleine Pappmodelle gebaut, auf ein Stativ geschraubt und so nah an die Kamera postiert, dass sie so groß wirken wie die echten hohen Mauern dahinter. So fügen sich unterschiedliche Perspektiven in einen Bildeindruck, der reale Eindruck kippt um in eine Traumwelt. Szenische Auflösung nennt die Künstlerin das denn auch treffenderweise.

Ähnliches machte sie mit dem Inneren ihres Ateliers. Auch hier baute sie Teile der Räumlichkeit in Pappe nach und montierte sie für das fertige Bild so vor die Kamera, dass die Größenverhältnisse stimmen, nicht aber die Winkel. Hier tun sich albtraumhafte Innenwelten auf, die an die Carceri eines Piranesi erinnern.

Ganz anders sind ihre Installationen bzw. Reliefs. Auch hier ist das Foto einer Stadtszenerie die Basis. Es wurde einmal als Fototapete an die Wand gebracht. Dann wurde das gleiche Foto in Streifen geschnitten und verdreht vor das Wandbild montiert. So werden aus der Zweidimensionalität des Fotos dreidimensionale Bildwelten, die, wenn man an ihnen vorübergeht, wie eine rasche Fahrt im Auto vorbei an spiegelnden Schaufensterscheiben wirken. Was real war, wird bei Sinta Werner irreal.

Piranesihaft verschlungene Wege und Räume begegnen dem Besucher der Ausstellung auch im Hauptsaal des Museums. Hier hat Rolf Wicker aus Sperrholzplatten ein wahres Labyrinth an Wegen, Höhlen und Durchblicken geschaffen. Das Ganze wirkt wie ein überdimensionales Architekturmodell und zugleich wie eine Märchenwelt aus abstrakten Bauelementen, doch wie bei Sinta Werner hat auch Rolf Wickers Arbeit einen realen
Ausgangspunkt. Was wir hier nachgebaut sehen, ist der Grundriss der Kirche San Clemente in Rom. Doch wenn Sinta Werner die Realität in eine unwirkliche Dimension überführt, reduziert Rolf Wicker Realität auf ihre Virtualität. Schreitet der Architekt vom Modell des geplanten Bauwerks zur Realisierung des Hauses fort, so geht Wicker wieder zum Modell zurück. Doch damit nicht genug. Die heutige Kirche steht auf dem Fundament einer im 12. Jahrhundert zerstörten Basilika aus dem 4. Jahrhundert, die wiederum auf einer antiken Münzstätte errichtet worden war. Wicker legt alle drei historischen Grundrisse gewissermaßen übereinander und zeigt, wie sich Geschichte über die Jahrtausende hinweg in Bauwerken ereignet hat. Architektonische Räumlichkeiten als ein Rekonstruktionsversuch, der Unmögliches anstrebt, nämlich die Vergleichzeitigung von historisch Ungleichzeitigem. Das kann nur die Kunst.

Spielt Sinta Werner mit der Wahrnehmung des Betrachters und dessen alltäglicher Normalität, die sie mit ihren Fotos untergräbt, so ging die 2008 gestorbene Katja Ka den umgekehrten Weg.

Auch sie bastelte Modelle, nur nicht raumgreifend groß wie Rolf Wicker, sondern miniaturhaft klein aus Pappe. So entstanden winzige Architekturen: Quaderhafte Bauteile mit Fenstern, Gebäude mit Türmen, Rundbauten aus Säulen. Doch keines dieser “Modelle“ hält einer architektonischen Überprüfung stand. Da laufen Öffnungen ins Leere, dort wissen Röhren nicht, was sie eigentlich bewirken sollen. Katja Ka spielte mit unserem ersten Sinneseindruck, der uns Miniaturarchitekturen vorgaukelt, die freilich beim zweiten Blick als Täuschung entlarvt werden. Hier werden Elemente der uns bekannten Architektur zitiert, die im Zusammenbau aber ad absurdum geführt werden. Wird die Realität bei Sinta Werner zur Täuschung, ist bei Katja Ka die Täuschung das Reale.

Am nächsten dem, was Architektur herkömmlicherweise tut, sind Lukasz Lendzinski und Peter Weigand: Sie gestalten tatsächlich Räume. Bezeichnenderweise nennen sie sich dabei als Duo Umschichtung, denn wenn die Architektur üblicherweise als Ziel ihres Tuns die Erstellung fester fertiger Baulichkeiten von Bestand hat, dann ist es das Ziel dieser Künstler, Räume einer ständigen Dekonstruktion und ständigen Rekonstruktion zu unterziehen. Aus wenigen Materialien – Brettern und handelsüblichen metallenen Baumarktregalböden – bauen sie Innenräume, die allerdings nicht auf Dauer angelegt sind, sondern als Durchgangsstadium. Im Kunstwerk werden sie mehrfach die angefangene Arbeit modifizieren.

Umschichten, Bauprobe, 2018

Schon jetzt zeichnet sich ab, woraus diese innenarchitektonische Gestaltung bestehen wird: Aus künstlichen Treppen, die ins Nichts führen, aus echten Treppen, die zu Rutschbahnen mutieren, aus metallenen Sitzmöbeln für Riesen. Die meisten Regalböden liegen freilich noch in hohen Stapeln am Boden, so als warteten sie nur darauf, dass die Bauarbeiter nach einer Pause ihre Konstruktionsarbeit wieder aufnehmen würden. An den Wänden hängen Skizzen, wozu solche Regalböden alles verwendbar sind: Zum Bau von Bodenplatten etwa – mal chaotisch durcheinander, mal exakt in Reih und Glied verlegt -, als Raumteiler, auch als Labyrinthe. Die Einfachheit als Quelle größtmöglicher Fantasieentfaltung. Hier gehen Elemente der Realität ein in das Bauen im Geiste, denn jeder Besucher ist aufgefordert, seine eigenen Räume in der Vorstellung zu basteln. Den Möglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt.

Wenn Künstler sich mit Räumlichkeiten befassen, dann entsteht eines nicht: funktionales Bauen. Was uns als architektonische Realität vertraut ist, wird unter den Händen der Künstler zum Spielmaterial, zur Hinterfragung unserer Wahrnehmungsgepflogenheiten, unserer Vorstellungen von Realität und Irrealität. Die Wirklichkeit wird zum Als ob.

Räumlichkeiten“, Kunstwerk Eberdingen-Nussdorf bis 24.6.2018. Katalog 56 Seiten 12 Euro

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