Vom Sinn des Tanzes: Martin Schläpfers erster Wiener Ballettabend Mahler, Live

Dass Videokameras live das Geschehen auf unseren heutigen Theaterbühnen aufnehmen und dass diese Aufnahmen auf Leinwänden simultan Teil des Bühnenbildes und -geschehens sind, ist fast schon zur Selbstverständlichkeit geworden. Im Ballett ist derlei noch eher selten, und doch hatte schon 1979 Hans van Manen neben der Solotänzerin die Videokamera zum zentralen Teil eines Balletts gemacht. Für seinen ersten Ballettabend hat der neue Wiener Ballettdirektor Martin Schläpfer vor seine neueste Kreation diesen Klassiker gesetzt. Coronabedingt steht es bei Arte Concert als Stream auf Abruf bereit.

Olga Esina © Foto: Ashley Taylor

Hell ist der Körper vom Scheinwerferspot angestrahlt. Nur langsam kommt die Tänzerin in Bewegung. Eigentlich ist das eher ein Erkunden des eigenen Körpers und seiner Ausdrucksmöglichkeiten in allen Teilen, fast eine Vorstufe zum Tanz, und doch ist faszinierend, wie van Manen daraus eine vollendete Choreographie entstehen lässt. Erst ein paar Schritte, dann die Konzentration auf die Arme, die Hände, Füße. Da reicht ein leichtes Abknicken des Handgelenks, und höchster tänzerischer Ausdruck ist da. Die Kamera hebt derlei kleinste Regungen des Körpers in Detailaufnahmen hervor, liefert gewissermaßen lehrbuchartig die Bilder zum Entstehen von Tanzbewegung. Und die Bewegung ist ein Musterbeispiel dafür, wie man minutiös der Musik, in diesem Fall Fünf kleine Bagatellen für Klavier von Franz Liszt, Note für Note folgen kann. Tröpfeln einige Akkorde, tippt ein Fuß mehrmals auf den Boden auf, entwickeln sich im Klavier Legatobögen, schwingen die Arme durch den Raum, und doch ist das nicht nur eine Verdoppelung der Musik durch den Tanz, vielmehr entsteht ein eigenes tänzerisches Geschehen.

Die Videobilder sind aber nicht reines Beiwerk. Van Manens Stück ist durch und durch reflektiert. So beginnt das Stück nicht mit dem Körper der Tänzerin, sondern mit der Kamera. Der Videofilmer Henk van Dijk richtet sie zunächst in den Publikumsraum, greift sich für die Leinwand einige der (in diesem Fall spärlichen, weit auseinander sitzenden) Zuschauer heraus, ehe er sich dann der Tänzerin zuwendet, die zunächst davon gar nichts merkt. Doch dann entdeckt sie, was mit ihr geschieht, und beginnt zunehmend, für die Kamera zu tanzen. Aus der selbstverlorenen Bewegung nur für sich wird ein Schaustück. Live nennt van Manen das Stück, und sogleich wird man mit der Frage konfrontiert, was hier live ist. Eigentlich wäre es der Tanz, der Körper auf der Bühne, aber ist es hier nicht vielmehr das filmische Bild, obwohl es schwarzweiß ist, also fern der Realität? Was ist wichtiger, die Präsenz des Tanzes auf der Bühne oder das Bild, das so konkrete Details einzelner Körperteile zu zeigen vermag.

Und das ist nicht die einzige grundsätzliche Frage, die das Stück aufwirft. Die Tänzerin verlässt die Bühne und geht, von der Kamera live verfolgt, durch die Foyers und Gänge der Wiener Staatsoper. Und hier, also fern der Bühne, beginnt der eigentliche Tanz, denn sie begegnet einem Kollegen. Es beginnt eine Annäherung, die schließlich in eine Art Geschlechterkampf mündet, an deren Ende die Tänzerin ihrem Partner eine Ohrfeige gibt, als er sie zu küssen versucht. Fern der Bühne also findet das statt, was sonst nur auf der Bühne erfolgt: Tanz und tänzerische Handlung.

Und der Zwist zwischen beiden hat eine Vorgeschichte, wie eine Reminiszenz an ein Zusammentreffen im Probensaal zeigt, jetzt nicht mehr live, wie die Uhr an der Wand verrät. Und auch hier kommt es nicht zu einer innigen Verbindung zweier Partner. Der Tänzer geht, die Tänzerin zieht sich einen Mantel über und verlässt die Oper, um im nächtlichen Wien zu entschwinden. Eine philosophische Auseinandersetzung um Körper und Tanz, Realität und Abbild, Bewegung und Handlung, zwischenmenschliche Beziehung und deren Scheitern, das Leben als Tänzer und als Privatperson, von Olga Esina und Marcos Menha bravourös verkörpert. Ein Meisterwerk, das auch vierzig Jahre nach seiner Entstehng keinen Staub angesetzt hat, sondern hochmodern ist.

Ob das zweite Stück des Abends, die neue große Choreographie des neuen Wiener Ballettdirektors Martin Schläpfer, auch als Meisterwerk in die Ballettgeschichte eingehen wird, ist eher zu bezweifeln. Es ist in vielerlei Hinsicht ein erstaunliches Werk. Für seine erste Wiener Arbeit wollte Schläpfer das ganze unter seiner Leitung stehende Ballettensemble auf die Bühne bringen, und das sind – die Tanztruppen der Staatsoper und der Volksoper zusammen – über hundert Tänzer. Zum zweiten hat er ein nahezu abendfüllendes Ballett geschaffen, und das ist für ihn eher ungewöhnlich, denn Schläpfer liebt die kleinen Formen, fast das Fragmentarische. Dafür hätte seine Komponistenwahl für ihn kaum besser sein können: Gustav Mahler, denn Mahlers Sinfonien sind zwar große Formen – die von Schläpfer ausgewählte vierte Sinfonie dauert eine Stunde, der dritte Satz allein über zwanzig Minuten -, und diese Sinfonie gab dem Stück auch den schlichten Titel: 4. Diese großen Formen setzen sich allerdings stets aus kleinen Teilen zusammen. Mahlers Musik ist zerrissen im wahrsten Sinne des Wortes, und das entspricht Schläpfers Tanzstil, bei dem man immer wieder das Gefühl hat, er fahre sich selbst in die Parade, zerfetze, was eine groß angelegte Bewegungssequenz hätte werden können. Daraus bezieht sein Tanz oft große Faszination.

So auch hier. Immer wieder stoßen Tänzer zusammen, werden für kurze Zeit ein Paar, eine Formation, um dann gleich wieder in andere Richtungen vorzudringen, sich zu vereinzeln. Selten wird in diesem neuen Werk parallel getanzt, oft entwickeln sich auf der Bühne mehrere Kleingruppen, die für sich zu existieren scheinen. Das entspricht ganz Mahlers Musik, die kleinteilig, disparat wirkt, ständigen abrupten Wechseln unterworfen ist. Schläpfer hat das choreographisch konsequent umgesetzt. Dabei hat er aber auch Raum für die unendlich kontemplativen Ruhephasen dieser Musik, die sich gerade in dieser vierten Sinfonie finden. Es beginnt, noch ehe das Orchester einsetzt, geradezu ostasiatisch philosophisch. Eine Tänzerin – Yuko Kato – schreitet langsam Schritt für Schritt seitwärts über die Bühne, fasst sich an den Kopf, hält sich die Hände vor den Mund. Es sind Verzweiflungsgesten, und das tastende Schreiten wirkt wie der Versuch, Ordnung in die Welt zu bringen.

Yuko Kato, Rebecca Horner © Foto: Ashley Taylor

Diese Tänzerin wird zu einer Art Leitfigur in diesem Ballett, zusammen mit Rebecca Horner. Beide wirken wie Nornen aus einer anderen Sphäre, die auf die Erde gekommen sind, um die Menschen in ihrem Treiben zu beobachten, ihnen auch mal hilfreich an die Hand zu gehen. So wollen den Paaren im zweiten Satz die Pas de deuxs irgendwie nicht harmonisch gelingen. Erst als Horner ihnen ein paar hilfreiche gestische Tipps gibt, kommt der Tanz in geregelte Bahnen. Das sind erregende Momente. Desgleichen die immer wieder auftauchenden Gesten der Verzweiflung, des Nichtweiterwissens. Schläpfer führt eine Menschheit vor, die am Rande zu einem Nichts zu stehen scheint und versucht, sich zu behaupten. Das passt zu Mahlers Fin de Siècle-Situation.

Ensemble © Foto: Ashley Taylor

Und Mahler ist für Schläpfer auch noch aus einem zweiten Grund ein idealer Komponist. Mahler kam von der spätromantischen Tradition des 19. Jahrhunderts, die er mit Gespür für die kommende Moderne immer wieder brach, und auch Schläpfers Bewegungsrepertoire fußt in der Tradition, wird aber stets gebrochen und in Neues, Modernes, manchmal sogar Alltägliches überführt.

Dennoch bleibt ein Unbehagen. Schläpfer verbleibt im Disparaten, das in Mahlers Sinfonik angelegt ist, aber Mahler führt durch musikalische Motive, die in Variationen immer wieder aufgegriffen werden, oft zurück in eine Ordnung, gebrochen zwar, aber vorhanden. Das fehlt bei Schläpfer, er bleibt zerrissen, daher auch allzu fragmentarisch. Die zahlreichen tänzerischen Szenen, manchmal Minidramen, wollen sich nicht zu einer Einheit fügen. Das wirkt manchmal wie ein choreographisches Skizzenbuch, und das hinterlässt bei einer Stunde Dauer doch Leerstrecken, Durststrecken, die Frage nach einem Sinn.

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