Von der Straße ins Museum: Die Plakatkultur im Paris des Fin de Siècle

Als Josef von Sternberg 1930 Heinrich Manns Roman Professor Unrat verfilmte, ließ er sich von den Plakaten inspirieren, die Ende des 19. Jahrhunderts in Paris zu künstlerischer Blüte gelangten. Marlene Dietrich legt da, wenn sie sich singend als fesche Lola vorstellt, auf einem Kneipenfass sitzend lasziv die Beine übereinander – genauso wie es Jane Avril, die berühmte Tänzerin in Paris, auf einem Plakat tut, das Toulouse-Lautrec für sie 1893 geschaffen hatte. Und der Filmregisseur hatte seine Anregung an der richtigen Stelle gefunden, denn in jenen Jahren entfaltete die bis dahin rein pragmatischen Zwecken dienende Plakatkunst einen künstlerischen Reichtum sondergleichen, und das nicht nur mit dem berühmtesten dieser Künstler, Toulouse-Lautrec. Die Galerie Stihl in Waiblingen zeigt nun die ganze Bandbreite dieses Kulturrauschs: La Bohème. Toulouse-Lautrec und die Meister von Montmartre.

Henri de Toulouse-Lautrec. Ambassadeurs: Aristide Bruant, 1892© Foto: Musée d’Ixelles-Bruxelles, Courtesy Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2018

Er ist einer der berühmtesten Kabarettsänger aller Zeiten, obwohl uns die Kunst des 1925 verstorbene Aristide Bruant nicht durch populäre Ton- oder Filmaufnahmen vertraut ist, und doch meinen wir, ihn so gut zu kennen wie die Medienstars unserer Zeit. Dass er das war, verdankt er keinem Geringeren als Toulouse-Lautrec. Mehrfach porträtierte der Adlige, der sich mit zwanzig Jahren im Künstler- und Nachtklubviertel Montmartre in Paris niederließ, diesen Sänger und machte seine Markenzeichen weltberühmt: den großen Hut, die schwarze Samtjacke, den roten Pullover, der an den Handgelenken sichtbar ist, und den roten Schal. Durch seine Plakate wurde dieser Habit berühmt. Und Bruant war nicht der einzige, dem Toulouse-Lautrec zu Ruhm über die Auftritte in den einschlägigen Etablissements hinaus verhalf, ob es nun das Moulin Rouge war, Le Mirliton oder Le Chat Noir.

Wenn man den Blick durch die Ausstellung schweifen lässt, scheinen die Plakate dicht an dicht zu hängen, doch so dicht, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts in Paris hingen, geht es kaum. Durch den Umbau, den Baron Haussmann der Stadt mit den breiten Boulevards verpasste, gab es Bauzäune en masse, und sie waren bis auf den letzten Zentimeter beklebt, desgleichen Häuserfassaden, wie ein altes Foto zeigt. Paris verfiel, so verkündet die Ausstellung, in einen Plakatrausch – und die Künstler, die das Material dazu lieferten, hatten dabei einen entscheidenden Anteil. Denn was in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstand, war mehr als nur eine plakative Werbemaßnahme. Zielstrebig wurde die Lithographie zum künstlerischen Ausdrucksmedium entwickelt.

Jules Chéret, Théâtre national de l’Opéra. Carnaval, 1892© Foto: Musée d’Ixelles-Bruxelles, Courtesy Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2018

Bahnbrechend war da Jules Chéret, der die Zahl der Druckstöcke reduzierte, so schnelles Arbeiten ermöglichte. Außerdem entwickelte er eine Technik, Farbe in kleinen Spritzern auf den Stein aufzutragen, sodass sich im Druck statt breiter Farbflächen duftige Farbnebel ergaben. Das wiederum beeinflusste seine Art der Figurendarstellung. Duftig leicht kommen die Tänzerinnen daher – Chéret widmete sich vor allem den Bällen in der Metropole, ob an der Oper oder in Studentenkreisen. Schwerelos wirken die Mädchen, sie scheinen geradezu in der Luft zu schweben.

Ganz anders Toulouse-Lautrec, dem es nicht so sehr auf Schönheit ankam. Bei seinen oft mit großen Flächen in reinen Farben gestalteten Figuren glaubt man die Anstrengung zu spüren, die dicken Farbschichten der Schminke zu sehen. Er erlaubt auch raffinierte Perspektiven. Mal ist das Publikum in den Bars nur als schwarze Silhouette zu sehen, mal ragen nur die oberen Kontrabasshälse ins Bild. Das hat etwas fast Surreales an sich. Wieder anders Eugène Grassets Figuren. Sie scheinen in sich gekehrt, verträumt, sind Abkömmlinge der ätherischen Wesen der englischen Präraffaeliten.

Alfons Mucha, Job, 1897 © Foto: Musée d’Ixelles-Bruxelles, Courtesy Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2018

Und Alfons Muchas Frauengestalten sind mit ihren langen gewellten Haaren der Inbegriff von Jugendstilschönheit. Er widmete sich denn auch weniger der Welt des Kabaretts als vielmehr der des großen Theaters, wurde der „Chefplakatkünstler“ der großen Sarah Bernhardt. Sein Plakat für die Zigarettenmarke Job ist eine pure Verlockung, zum Nikotinstengel zu greifen.

Aber nicht nur die Stars der Kabaretts und die Veranstaltungen wurden beworben. Dieselben Künstler, die sich dem lasziven Treiben der Halbwelt widmeten, engagierten sich auch für die Literatur, und da kommen ganz andere Seiten zum Vorschein. Jules Chéret, der Meister der lebenslustigen Mädchen, warb für den sozialkritischen Roman La Terre von Émile Zola, und zeigt einen Tagelöhner bei der Feldarbeit.

Es gab nichts, was nicht in das Feld der neuen Kunst gehörte – Schokolade ebenso wie Champagner, es wurde für sterilisierte Milch geworben wie auch für Tinte oder Abführmittel. Und auch das Fahrrad profitierte von der Reklamekunst. Die Produktwerbung feierte hier bereits einen Höhepunkt. Und auch, dass man mit einem berühmten Namen Geld verdienen kann, war vor über hundert Jahren nicht unbekannt. Sarah Bernhardt stellte ihren für eine Pudermarke zur Verfügung.

Die Künstler setzten ihre Fähigkeiten auch für ihre eigene Kunst ein, warben für Plakatfirmen, die sich etablierten, machten deutlich, dass es sich um Kunst handelte, die einen eigenen Ausstellungssalon erhielt, den Salon des Cents, auch wenn der von der sich eher für seriös haltenden Freundesschar der hehren Kunst verächtlich angesehen wurde, wie ein Plakat zeigt.

Dabei begnügten sich die Künstler nicht mit bloßen Anpreisungen der Produkte. Für jedes Plakat erfanden sie eine nicht selten anspielungsreiche Szene, für die sie sich Anregungen auch aus der Welt der Antike holten. Solche Details erfährt man aus den ausführlichen Texten neben den Bildern. Die Kuratorin Barbara Martin hat nicht nur die Ausstellung brillant in einzelne Themenbereiche aufgeteilt, an deren Ende eben jene Selbstbespiegelung der Plakatkunst steht. Sie hat jedem Exponat einen informativen, sehr lesbaren Text beigegeben. Durch diese Texte wird die vorzügliche Ausstellung geradezu zum Ereignis, denn hier taucht man ein in die soziale und kulturelle Atmosphäre dieser Jahre. Es sollte die Texte als Broschüre geben. Sie wäre eine wertvolle Ergänzung zum Katalog, der die einzelnen Plakate nur mit den üblichen knappen Bildlegenden versieht.

La Bohème. Toulouse-Lautrec und die Meister von Montmartre“. Galerie Stihl, Waiblingen bis 22.4.2019. Katalog 160 Seiten, 25 Euro

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