Zwischen den Welten: Die Raumkunst von Camill Leberer

Der Raum sei euklidisch und dreidimensional, befand vor 400 Jahren Isaac Newton und zementierte, was vor zweieinhalbtausend Jahren der Grieche Euklid definiert hatte: ein Phänomen aus Höhe, Breite und Tiefe. Das freilich wurde im 20. Jahrhundert durch Albert Einstein relativiert, ebenso wie der Begriff Materie, die eben nicht mehr wie einst als feste Substanz gilt. Die moderne Physik hat das Weltbild erneuert – der Stuttgarter
Camill Leberer hat faszinierende künstlerische Visionen dazu entworfen, wie jetzt eine Ausstellung im MuseumArt.Plus in Donaueschingen zeigt.

Köcher-Fassade“ heißt eine Arbeit aus dem Jahr 2014. Was für ein Titel! Er bringt alle herkömmlichen Vorstellungen zum Einsturz. Köcher – das ist ein Behältnis für Pfeile, eine Art Hohlraum und damit dreidimensional; Fassade ist die Hauptansichtsseite eines Gebäudes und also flächig und zweidimensional. Es sind zwei Begriffe, die eigentlich einander ausschließen, und doch hätte Camill Leberer für das Gebilde keinen besseren Titel wählen können, denn das, was auf den ersten Blick tatsächlich wie eine Fläche aus verschieden farbigen Glasscheiben wirkt, ist in Wirklichkeit ein schmaler Kasten – und doch auch wieder nicht, denn die „Kastenform“ wird lediglich durch Eisenbänder evoziert, in denen farbige Glasscheiben stecken, unterschiedlich lang, sodass sie oben herausragen, eben wie Pfeile in einem Köcher. Damit nicht genug. Was wie kompakte Wände wirkt, besteht aus einzelnen, lose eingesteckten Glasscheiben, was eine Fassade zu sein scheint, ist in Wirklichkeit nichts als farbiges Licht.

Bei Camill Leberer wechseln die Materialien ständig ihre Anschauung: Glas kann kompakt wirken, weil opak oder schwarz oder grün besprüht, es kann aber auch transparent wirken, als wäre es keine Materie, sondern reines Lichtspiel. Materie und Nichtmaterie zugleich – materiell und immateriell, oder wie möglicherweise Platon ausgehend von seinem Höhlengleichnis formuliert hätte – sinnlich wahrnehmbares Objekt und Idee zugleich.

Von Beginn seiner Karriere hat Leberer mit dem Phänomen Transparenz gerungen. Für seine Zeichnungen verwendet er gern Transparentpapier. Die darauf gesprühten schwarzen oder grauen Gebilde erhalten so eine Schwerelosigkeit, wie sie eine Graphitzeichnung auf Papier nie erlangen könnte. Das sinnliche Phänomen erhält auf diese Weise zugleich etwas Transzendentes, in eine andere Sphäre Verweisendes oder aus einer anderen Welt Kommendes. Leberer arbeitet stets in einem Zwischenbereich. An der Wand hängen zwei herkömmliche Schminkspiegel. Eine Hälfte der Spiegelfläche ist dabei mit Farbe bedeckt, einmal schwarz, einmal weiß – der Spiegel kann seine traditionelle Aufgabe nur zur Hälfte erfüllen, die andere Hälfte bleibt Geheimnis, mal düsteres, mal lichtes Enigma.

Seine Skulpturen stehen mitten im Raum. Auch sie bestehen aus undurchsichtigen Teilen wie Metall und transparenten wie Glas. Raffiniert ineinander geschichtet und miteinander verschränkt halten sie das Auge des Betrachters ständig in Bewegung. Man möchte hindurchblicken, weil man das von Glas so gewohnt ist, doch wird der Blick unablässig aufgehalten – durch querstehende Glasscheiben, deren Kanten eine weitere Sicht verhindern, oder durch Eisenbänder. Perspektiven verschränken sich, der Betrachter verliert jede Orientierung, verirrt sich in einer Vielzahl von Lichträumen, die sich mit jedem Schritt verändern. Leberers Raumplastiken wirken statisch und sind doch in Wirklichkeit voller Bewegung.

Auch im Medium der Fotografie ist Leberer Grenzgänger zwischen den Welten. Nie bildet bei ihm das Foto die Welt ab; bezeichnenderweise verwendet er als Motiv gern ein Brillenglas, doch ist das noch ein „Motiv“? – das Glas bricht die umliegende Welt, verzerrt sie, spiegelt sie, macht sie unwirklich, verwirrt jeden Sinn von Größendimension. Der Fotoapparat in Leberers Hand entwirft Welten, die mit der vorhandenen spielen, aber vollkommen neu sind, nicht selten unwirklich wirken.

Das gilt auch für die neuen großen Arbeiten, in denen Leberer Transparentpapier übereinander gelegt hat. Auch hier bewegt er sich zwischen Welten – zwischen hell und dunkel, zwischen kräftig und diffus, zwischen Zeichnung und Skulptur, denn durch die hintereinander geschichteten Papiere eröffnet sich vor dem Auge ein Tiefenraum, wie er einer Zeichnung nie zukommt. Zeichnung wird Skulptur, so wie seine Skulpturen je nach Blickwinkel wie Zeichnungen wirken – ein Köcher kann eben auch Fassade sein.

Leberers Arbeiten sind somit, so mechanisch und konstruktivistisch sie auch wirken mögen, in Wirklichkeit Auseinandersetzungen mit dem Leben, mit dem Sehen, mit dem Ich. Der Betrachter wähnt sich in konkreten Räumen und findet sich doch immer wieder in einem Niemandsland, einem Nichtraum. Es sind philosophische Arbeiten aus dem Geist der – künstlerischen und physikalischen – Moderne.

Camill Leberer“, MuseumArt.Plus Donaueschingen bis 25.6.2017

 

4 Gedanken zu „Zwischen den Welten: Die Raumkunst von Camill Leberer

  1. Camill Leberer

    Sehr geehrter Herr Zerbst ,
    über Ihren fundierten Artikel habe ich mich sehr gefreut .Sie haben es auf den Punkt gebracht . Vielen Dank
    mit herzlichen Grüssen
    Camill Leberer

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  2. Ralf Christofori

    Schön, dass es noch redaktionelle Kultur-Formate gibt, die sich tatsächlich mit Kunst AUSEINANDERSETZEN. Gratuliere, Herr Zerbst, Glückwunsch Herr Leberer!

    Ralf Christofori

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  3. ULRICH BERNHARDT

    SEHR GUT SIND DIE ARBEITEN LEBERERS BESCHRIEBEN UND ZUR PHILOSOPHIE IN BEZIEHUNG GESETZT.
    JA DIESE SIND SELBST EINE OBJEKTHAFTE PHILOSOPHIE DER ARCHITEKTUR.
    ZITAT S.GIDEON: HIER SIND ES DAS INNEN UND AUSSEN EINES GEBÄUDES, DIE SIMULTAN DARGESTELLT WERDEN.DIE AUSGEDEHNTEN TRANSPARENTEN FLÄCHEN , WELCHE DIE ECKKEN ENTMATERIALISIEREN , GESTATTEN DIE SCHWEBENDEN BEZIEHUNGEN DER EBENEN UND DIE ART DER ÜBERLAPPUNGEN.“

    Antworten
    1. ULRICH BERNHARDT

      SEHR GUT SIND DIE ARBEITEN LEBERERS BESCHRIEBEN UND ZUR PHILOSOPHIE IN BEZIEHUNG GESETZT.
      JA DIESE SIND SELBST EINE OBJEKTHAFTE PHILOSOPHIE DER ARCHITEKTUR.
      ZITAT S.GIDEON: HIER SIND ES DAS INNEN UND AUSSEN EINES GEBÄUDES, DIE SIMULTAN DARGESTELLT WERDEN.DIE AUSGEDEHNTEN TRANSPARENTEN FLÄCHEN , WELCHE DIE ECKKEN ENTMATERIALISIEREN , GESTATTEN DIE SCHWEBENDEN BEZIEHUNGEN DER EBENEN UND DIE ART DER ÜBERLAPPUNGEN.“

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