Beklemmende Welt im Biedermeiergewand. Karen Duves Roman über die junge Annette von Droste-Hülshoff

Ihr genügten Kleinigkeiten – Blätter, Farben, Töne, und Annette von Droste Hülshoff entdeckte in ihnen Geheimnisse. In der Natur und der Landschaft, zumal der ihrer westfälischen Heimat, suchte sie nicht ihr eigenes Ich, vielmehr spürte sie dem Eigenleben der Welt nach und entdeckte immer wieder tiefere Zusammenhänge. Im Alltag war die stets kränkelnde Annette nicht so feinfühlig. So weigerte sie sich, ihrem Onkel Werner von Haxthausen ihren ersten Gedichtband zuzusenden, denn er würde ja doch alles nur niedermachen, „dass es kein Schwein fressen sollte“, und den Schreibstil eines Kunsthistorikers verglich sie mit den „sieben mageren Kühen des Pharaos“. Lag es daran, dass sie nie geheiratet hat, weil sie die Männer abschreckte, oder steckt hinter dieser Ehelosigkeit ein tieferes Geheimnis? Das deutet Karen Duve in ihrem neuen Roman an.

Karen Duve. Fräulein Nettes kurzer Sommer. Roman. Galiani Verlag Berlin. 592 Seiten

Sympathisch war sie nicht gerade, denn sie tat so ziemlich alles, was man eben nicht tat – und das war sehr viel in der Gesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in einer Zeit, in der sich das Bürgertum am liebsten in die gute Stube zurückzog und züchtig und zumindest nach außen hin moralisch einwandfrei eine biedermeierliche Existenz führte. Frauen hatten sich in Zurückhaltung zu üben, möglichst leise zu sprechen, am besten in einer etwas höheren Tonlage, weil das möglicherweise zarter klang; sie hatten ihre Zeit damit zu verbringen, den Männern den Alltag angenehm zu machen, zu sticken, vielleicht ein wenig zu zeichnen, vor allem aber im Hintergrund zu bleiben und den Mund zu halten, zumal wenn Männer den Ton angaben. Karen Duve zeichnet subtil eine Lebenssphäre, in der die Frauen unterdrückt waren, ohne dass das ausgesprochen werden musste; sie hatten es verinnerlicht, so Annettes Schwester Jenny, ihre Tanten und Großmütter, mit denen man ständig Kontakt hatte, denn wer zum Adel gehörte, wenn auch nicht zum reichen, der brachte seine Zeit mit Familienbesuchen zu.

Doch all das war Annettes Sache nicht. Ihre Stimme war tief, sie sprach zu laut, vor allem redete sie ständig mit und drein, sogar den Männern. Sie war eine gesellschaftliche Zumutung oder, wie es auf Seite achtzehn heißt, „eine Nervensäge“!

Vor allem hat sie eine Begabung, in Fettnäpfchen zu treten und Menschen vor den Kopf zu stoßen, weil sie kein Blatt vor den Mund nahm. Wilhelm Grimm, den eher scheuen, ja schüchternen Wissenschaftler und Märchensammler, redet sie mal als Wilhelm Unwill an, mal als Grimmhelm Wimm.

Aber auch für die Männer ist diese Welt kein Freiraum. Gewiss, sie geben den Ton an, treffen sich in Studentenzirkeln, träumen von der großen literarischen Karriere, auch von echter Liebe zu einer jungen Frau, aber die Möglichkeiten sind begrenzt. Annettes jugendlicher Onkel Werner muss sich der Verwaltung des Familienbesitzes widmen, und auch die anderen, die unter Pfeifenqualm und Biergenuss große Reden schwingen gegen alles Französische und für eine wahre deutsche Kultur und Literatur, holt die Realität auf den Boden zurück. „Sie lassen Dichtung Dichtung sein und verstreuen sich in alle Lande, um auf irgendeiner kleinen Dienststelle als Advokat, in irgendeinem Kaff als Theologe oder auf irgendeinem Gut als Hauslehrer zu beginnen.“ So enden romantische Träume, so beginnt biedermeierlicher Alltag.

Da hat es Annette sehr viel besser, denn sie hat neben ihrer äußeren Schale ein sehr empfindsames Gemüt, sie schreibt, und zwar besser als ihre männliche Umgebung. Das findet sogar Anerkennung, etwa von Heinrich Straube, der von seinen männlichen Kollegen als Genie der Zeit und Zukunft gepriesen wird, der sich in sie verliebt, aber nicht wagt, es nach außen dringen zu lassen. Zudem ist er arm, nicht von Adel und Anhänger der „falschen“ Konfession, denn natürlich kann ein adliges Fräulein nur innerhalb ihrer Standesgrenzen heiraten, und dazu gehören auch Religionsgrenzen.

So begnügen sich Straube und Annette mit kleinen Andeutungen, Hoffnungen, Gesten. Ähnlich rührend zart ist das aufkeimende Liebesgefühl zwischen Annettes Schwester Jenny und Wilhelm Grimm gezeichnet. Karen Duves Roman zeigt eine Gesellschaft, in der es fast unmöglich scheint, eine Liebe auch zur glücklichen Ehe führen zu können. Dabei fehlt sexuelle Anziehung keineswegs, wenn auch in Annettes Fall in einer kurzen Verirrung zum falschen Mann. Straubes Freund August von Arnswaldt, der „schöne“ Arnswaldt, will sie erobern, kommt ihr ziemlich nahe, fast sogar zu nahe, und die Familie geht mit Stillschweigen darüber hinweg, schließlich verdankt sie diesem Mann, dass es zu einer Beziehung mit dem „unmöglichen“ Straube nicht kommt.

Nur Annettes Glück bleibt auf der Strecke. Karen Duves Geschichte um die Intrige, mit der Arnswaldt die beiden heimlich Liebenden auseinanderbringt, dürfte der historischen Wahrheit sehr nahekommen, doch „was tatsächlich im Sommer 1820 auf dem Bökerhof vorgefallen ist, liegt im Dunkeln“, wie Karen Duve im Vorwort vorsichtig betont.

Literatur, Fiktion ist ein Spiel mit der Möglichkeit, und genau dieses Spiel hat Karen Duve mit diesem Roman, in dem äußerlich so wenig geschieht, innerlich aber umso mehr, subtil evoziert. Und wer weiß, vielleicht verdankt die Nachwelt ja der Tatsache, dass Annette von Droste-Hülshoff ledig geblieben ist, ihre Dichtung, denn als Frau der Gesellschaft dichtet man nicht. Wenn ja, dann hat Karen Duve nicht etwa die Genese einer Dichterin geschildert, sehr wohl aber die Ermöglichung einer solchen Entwicklung zu einer Frau des dichterischen Wortes angedeutet. Das ist Literatur: etwas, das möglich gewesen sein könnte.

Karen Duve. „Fräulein Nettes kurzer Sommer“. Roman. Galiani Verlag Berlin. 592 Seiten, 25 Euro

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