Bizets Carmen an der Staatsoper Hannover: Femme ohne fatale

 

Sie sei „der Sexus selber“ meinte Theodor W. Adorno über Georges Bizets Carmen, und meinte die Titelfigur. Er hätte auch die Oper bzw. die Musik meinen können, die Friedrich Nietzsche als böse und raffiniert empfand. Carmen gilt vielen als vollkommene Verkörperung der Femme fatale, eine Lulu des 19. Jahrhunderts, aber auch schon eine Vorausdeutung auf die moderne Frau, die sich durch keine gesellschaftlichen Konventionen eingrenzen lässt, die ganz ihrer Lust und dem Augenblick lebt. An der Staatsoper Hannover kommt sie dagegen ganz anders auf die Bühne.

Evgenia Asanova, Ensemble © Sandra Then

Als Grande Dame der großen Schlagershow geriert sich diese Carmen mitten in der Oper. Sie wird umtanzt von einigen Herren – coronabedingt hat man auf Chöre verzichtet und sie entweder solistisch interpretieren lassen oder durch das Phänomen Tanz ersetzt – sinnigerweise, schließlich hat Carmen eine große Affinität zu dieser Ausdrucksform. Ein riesengroßer rot glänzender weit schwingender Rock nimmt fast die ganze Bühne ein. So tritt ein kleiner Star im Fernsehen auf, und bei ihrer ersten Arie kommt denn auch ein Kamerateam auf die Bühne und dreht ihren Auftritt.

Ein durchgezogenes Konzept ist aus diesem Aspekt allerdings nicht geworden, wie so so vieles in dieser Inszenierung. Das hat Folgen für die Gestaltung dieser Rolle. Evgenia Asanova kann weder die Femme fatale spielen noch eine unwiderstehliche erotische Anziehungskraft auf den jungen Sergeanten ausüben. Weshalb dieser sich auf den ersten Blick unsterblich in sie verliebt, wird nicht nachvollziehbar. Diese Carmen, der Evgenia Asanova gesanglich auch zu junge Züge, fast unschuldige Züge verleiht, ist eher ein Teenager Typ Girlie, ein Schlagersternchen, die Regie lässt sie gelegentlich eher wie einen schwachen Abklatsch auf eine Helene-Fischer-Show wirken denn wie eine die Emotionen aufpeitschende Frau, der ja auch der Macho Escamillo verfällt.

Ein ganz anderes Konzept prägt diese Inszenierung schon deutlicher. Zu Beginn sehen wir Don José in einer Art heruntergekommenem Stadion, inzwischen möglicherweise eine Art Turnhalle, bei Laufübungen. Verbissen läuft er auf der Stelle, als wolle er inneren Druck abarbeiten, unter dem er auch steht. Die Regisseurin Barbora Horáková siedelt das ganze Geschehen gewissermaßen im Kopf des jungen Helden an. In eingestreuten Bemerkungen (auf deutsch) aus dem Off dringen wir in seine Gedankenwelt ein, und die ist voller Erinnerungen, wie es damals war in Sevilla. Doch auch dieser Aspekt der Oper als Erinnerungsarbeit des Helden bleibt Episode. Nur noch einmal taucht José mit seinem Seesack an dem Ort des früheren Geschehens auf. Ansonsten wird die Oper eher in der Gegenwart der Handlung dargeboten.

Immerhin, die Texte, die die Regisseurin zusammen mit Dramaturg Martin Mutschler für Don José und Carmen entwickelt hat, geben uns einen Einblick in deren Psyche: Auf der einen Seite der hoffnungslos Verliebte, der genau weiß, dass er einem Dämon nachjagt, auf der andern eine junge Frau, die ganz ihrer Freiheit und dem Augenblick lebt.

Musikalisch ist diese Carmenversion aufregend. Zwar ist alles da, was wir an dieser Oper lieben – die Ohrwürmer Habanera, Seguidilla, Don Josés schwärmerische Liebeserklärung an Carmen, das auftrumpfende Torerolied des Escamillo -, doch schon der Anfang ist ungewohnt verhalten. Nicht die den Opernbesucher mit voller Orchestrierung in die Stierkampfatmosphäre hineinkatapultierende Musik, sondern zunächst leise im Raum entstehende Klänge, die ganz allmählich in musikalisch vertraute Bereiche münden, bis schließlich Bizets Oper mit der Anfangsszene vor der Zigarettenfabrik von Sevilla einsetzt. Der Komponist Marius Felix Lange hat nicht nur Bizets Partitur coronabedingt auf ein stark reduziertes Orchester zurechtinstrumentiert, er hat dem Instrumentarium noch Röhrenklänge und Marimbaphon hinzugefügt, vor allem hat er besonders im ersten Drittel der Oper immer wieder eigene Kompositionsteile eingefügt, Klänge, die das Vertraute aufbrechen, die Unsicherheit evozieren, musikalische Fragezeichen aufwerfen. Das führt vor allem zu Don José hin, dem ja zunehmend der Boden unter den Füßen dahinschwindet. Es wäre für ihn tatsächlich besser, der Jugendfreundin Micaëla zu folgen, die versucht, ihn zu seiner Mutter zurückzuholen – Barno Ismatullaeva gestaltet diesen Part mit betörend schönem Sopran, schlicht eingesetzt, wie es sich für ein Mädchen vom Lande gehört, eindringlich in ihrem echt empfundenen Gefühl für José. Wo er herkommt, macht die Inszenierung mit einem Volkslied aus dem Baskenland deutlich, das Marius Felix Lange eingefügt hat. Ähnliches hat er für Carmen und deren Herkunft getan, hier hat er erfreulicherweise auch auf moderne Orchesterklänge verzichtet, die bei Josés Lied den Volksliedcharakter etwas durchkreuzen.

Rodrigo Porras Garulo, Evgenia Asanova, Barno Ismatullaeva © Sandra Then

Aber José kann nicht zurück. Rodrigo Porras Garulo gestaltet stimmlich mit bisweilen metallisch glänzenden Spitzen eindrucksvoll den Zerrissenen, der nie auf der Gewinnerseite stehen wird – im Unterschied zum Macho Escamillo, für den Germán Olvera erstaunlich lyrische Töne findet und dennoch der Rolle gemäß zu triumphalem vokalem Machogestus fähig ist.

Die von Marius Felix Lange gezwungenermaßen stark reduzierte Orchesterversion hat zwar ihre Reize, doch fehlt die raffinierte Instrumentation eines Bizet – weshalb grundsätzlich zu fragen ist, ob die Opernhäuser, solange Corona zu personellen Einschränkungen auf und unter der Bühne zwingt, nicht eher auf das klassische Repertoire verzichten sollten und lieber Alternativspielpläne entwickeln sollten.

German Olvera, Evgenia Asanova, Ensemble © Sandra Then

Der Klang ist dünn, und wenn dann noch auf der Bühne von den Komparsen ohrenbetäubender Lärm entfaltet wird oder Escamillo miti seinen Verehrern mit echten Motorrädern auf die bühne fährt, ist etwa von der reizvollen Zwischenaktmusik vor dem 2. Akt kaum ein Ton zu hören. Eine Opernregisseurin sollte wissen, dass Oper ein Musikkunstwerk ist und Frohsinn und Ausgelassenheit auf der Bühne auch leiser inszeniert werden können. Und wenn die von ihr zusammen mit dem Dramaturgen Martin Mutschler (der die Oper feinfühlig auf unter zwei Stunden gekürzt hat, ohne dass dabei Verlustempfindungen aufkommen) erfundenen Zwischentexte, die ansonsten sinnvoll sind, auch mitten in das gesungene Finale eingeblendet werden, wird das von Bizet so grandios komponierte Schlussduett zum fahlen Melodram.

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