Das Ding an sich: Die Fotokunst von Ricarda Roggan

Gehet hin und lernet, mit so einfachen Mitteln so Großes hervorzubringen“ meinte Beethoven einmal über Georg Friedrich Händel. Dass dieser Grundsatz auch in der bildenden Kunst gelten kann, hat ein Giorgio Morandi bewiesen, der sein Leben lang nahezu nichts anderes als Flaschen und Kannen gemalt hat, oder ein Peter Dreher, der jeden Tag ein Glas Wasser malt und damit ein unendliches Spektrum an Lichtatmosphären schuf. Die Städtische Galerie in Backnang zeigt jetzt, dass offenbar auch die Fotografin Ricarda Rogann diesem Prinzip folgt.

Menschen finden sich auf den Fotos von Ricarda Roggan nicht, auch keine komplexen Szenerien. Die Welt ihrer Bilder ist die Welt der Dinge. Schlicht und nüchtern werden sie von ihr abgebildet, gewissermaßen porträtiert. Das kann ein alter Sessel sein, Mobiliar wie Tische und Stühle oder Filmprojektoren, schließlich hat sie eine Zeitlang ihren Lebensunterhalt als Filmvorführerin verdient. Und wie sehr ihre Fotografie den Dingen huldigt, zeigen die Bildtitel; sie beschreiben lapidar, was auf den Fotos zu sehen ist: Etwa „Drei Stühle und ein Tisch“, „Baumstück“.

Eines allerdings ist diesen Dingen gemeinsam: Es sind fast durchweg alte Dinge. Die Projektoren stammen aus der Zeit vor der Digitaltechnik, die Stühle und Tische ganz gewiss nicht aus dem 21. Jahrhundert.

Besonders angetan hatten es ihr Videospielapparaturen, die inzwischen vorsintflutlich wirken. An ihnen konnte man in die Rolle von Rennfahrern schlüpfen und in einem Autositz mit einem Lenkrad Höchstgeschwindigkeiten simulieren. Mit Hilfe von Plastikplanen, Übermalungen und ungewöhnlichen Perspektiven werden auf den Fotos Apparaturen wie aus Science Fiction-Filmen.

Spuren des Alters aber sucht man an den Objekten in der Regel vergebens. Ricarda Roggan putzt die alten Objekte regelrecht heraus, reinigt sie, wenn nötig, porträtiert sie blitzblank, als wären sie nagelneu. Und damit erhalten diese Bilder einen Hauch von Surrealität: Sie stellen Alter dar, wirken aber neu. Diesen Hauch von Überwirklichkeit erzielt die Fotografin auch durch die Beleuchtung des Raums, in dem sich die Dinge befinden. So scheint das Zimmer mit den Stühlen und Tischen keine Ecken zu haben, die Wände scheinen in reinem Weiß zu zerfließen.

Diese Raffinesse in der Ausleuchtung der Objekte findet sich allenthalben. Dadurch wirken sie seltsam überhöht, wie kostbare Wesen aus einer anderen Welt. Vor allem haben sie jeden Kontakt mit der Lebenswelt, in der sie einmal ihren Zweck erfüllten, verloren. Es sind reine Exponate im wahrsten Sinn des Wortes, Ausstellungsstücke. Im Fall des alten Sessels macht sie das sogar überdeutlich, indem sie ihn auf ein weißes Podest gestellt hat, als wäre er ein Objekt in einer Museumsausstellung.

Und doch scheinen diese Dinge, gerade wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer früheren Epoche, Geschichten zu erzählen. Wer saß auf den Stühlen, waren es Möbel in einer Kantine?

Die Filmprojektoren sind in Aktion. Der von der Firma BAUER, Modell P7 – die Apparate sind genau bezeichnet – strahlt grelles Licht in den Raum, aber ein Film kann da nicht projiziert werden, denn die beiden Bügel, auf die man die Filmrollen steckt, sind heruntergeklappt; bei einem anderen Apparat gibt es zwar eine Filmrolle, doch ist sie so ins Dunkel gerückt, dass man sie kaum sieht. Die Funktion dieser Geräte wird gewissermaßen behauptet, scheint aber unmöglich, und durch das Licht bekommen diese Geräte etwas Gespenstisches.

Das gilt auch für eine Serie, in der Ricarda Roggan ausnahmsweise nicht Dingen auf den Leib gerückt ist, sondern der Natur. Ihre Ausschnitte von Wäldern lassen jeden Aspekt einer Waldlandschaft vermissen, es fehlen Vögel. Man sieht streng genommen nicht einmal Bäume, sondern nur Laub, Zweige, ein undurchdringliches und geradezu unheimliches Dickicht von Blättern. Hier kann man sich Hänsel und Gretel vorstellen, wie sie sich bereits längst verlaufen haben.

So wird man ständig angeregt, sich Geschichten auszudenken, etwa vor dem Foto mit dem alten Sessel. Der Bildtitel verzeichnet schlicht, was zu sehen ist, wie stets bei Ricarda Roggan: „Sessel“, gibt aber in Klammer auch an, wem er einmal gehörte: dem Grafiker Josef Hegenbarth. Es muss sein Lieblingssessel gewesen sein, so zerschlissen, wie die Sitzfläche ist. Dieses Foto – Ricarda Roggan arbeitet ja gern in Bilderserien – ist Teil eines Diptychons. Auf dem zweiten Foto ist derselbe Sessel zu sehen, diesmal liegt eine Decke über ihm. Der Titel dieses Fotos verweist auf Johanna Hegenbarth, die Frau des Künstlers, die den Sessel nach seinem Tod offenbar nicht wegwerfen wollte, ihn aber ein wenig aufhübschte. Hinter dem Diptychon steckt eine Ehegeschichte, die Geschichte einer Liebe, so wie hinter den Projektoren die Frage nach alt, neu oder zeitlos steht.

Die Bilder von Ricarda Roggan geben Dingen, die ihre Funktion und damit ihren Wert in der Lebenswelt verloren haben, Würde, indem sie sie der Lebenswelt entziehen und als Solitäre ausstellen, wie in einem Museum. Aus den Alltagsdingen sind reine Bilder geworden.

Ricarda Roggan“, Galerie der Stadt Backnang bis 27.09.2021

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