Mein Körper und ich. Antony Gormley im Schauwerk in Sindelfingen

Jeder Mensch hat ihn, bedient sich seiner, ist einer – ein Körper. Er ist dem Menschen Heimstatt, Hülle, Werkzeug, ja Identität, und doch macht man sich in den seltensten Fällen Gedanken über ihn, weil er, wenn gesund, kaum auffällt, jedenfalls nicht einem selbst. Ein Fehler, meint einer der bedeutendsten britischen Bildhauer. Antony Gormley hat sich seit Jahrzehnten mit seinem Körper auseinandergesetzt, von dem er Abdrücke anfertigen ließ, die ihm als Ausgangspunkt für seine Plastiken dienen. Im Schauwerk in Sindelfingen ist sein Körpergefühl nachzuvollziehen: Learning to be.

Die Ausstellung hätte auch den Titel Ecce homo tragen können, denn seit
Jahrzehnten beschäftigt sich der britische Bildhauer Antony Gormley mit der menschlichen Figur. So ist es kein Wunder, dass sich die seit der Antike klassischen Körperhaltungen finden – der Stehende zum Beispiel, der Liegende, sogar der Hockende, wenn auch in stark abstrahierter Form. Aber abstrahiert ist bei Gormley die Figur ohnehin immer, weshalb es sinnvoller ist, vom Körper zu sprechen. Vier solcher Körper empfangen den Besucher der Ausstellung im langen Entreegang, und man sieht sofort, wie stark die Abstraktion ist. Zwar deutet Gormley gelegentlich sogar so etwas wie Gesichtszüge an, auch Muskelpartien, doch weitgehend bestehen seine Körper aus geglätteten Körperhüllen, meist aus Blei, und auf diesen Bleiflächen befinden sich Linien, als hätte ein Geometer diese Körperlandschaften kartografiert, und trotzdem meint man, atmende Menschen vor sich zu haben. Da liegt eine Figur mit ausgestreckten Armen auf dem Bauch auf dem Boden, und man spürt regelrecht das Gewicht des Körpers, der auf den Boden drückt. Daher nennt Gormley diese Plastiken auch nicht
Still Life, sondern Still Feeling. Eine andere Figur liegt mit dem Gesicht zur Wand, und man spürt, wie die Figur Geborgenheit sucht, vielleicht auch Angst vor der Welt hat. Wieder eine andere streckt ihre stark verlängerten Arme aus, als wolle sie sehen, wie breit der Raum ist, denn das Verhältnis von Körper zu Raum ist ein wesentlicher Aspekt unseres Identitätsgefühls.

Gormley stellt aber auch die Frage nach dem Wesen von Körpern. Auch wenn der Betrachter nicht weiß, wie schwer die Plastiken sind, hat er doch das Gefühl, dass er nur die Außenhaut vor sich hat, das Innere ist leerer Raum. Gormley liefert also nicht den ganzen Körper, der ja auch noch die Organe beinhaltet, sondern nur die Hülle, das Äußere. Er fragt aber auch danach, was einen Körper zum Körper macht.

So meint man bei einigen Plastiken nur ein Ineinander verschlungener Stahlstreifen vor sich zu haben, eine Art Stahlgewölk, und eine dieser Plastiken heißt denn auch Quantum Cloud, doch dann erkennt man, dass sich im Inneren dieser Stahlwolke eine menschliche Figur herausbildet: Etwas breitbeinig steht sie da, die Arme hängen herab, und betrachtet man die Figur von der Seite, sieht man, wie realistisch Gormley diese Gestalt geformt hat, mit leicht durchgedrückten Knien: Abstraktion und Realismus in einem, ein künstlerischer Spagat.

Zum menschlichen Körper gehört in der Regel auch das, was ihn umhüllt, die Kleidung. Auch sie findet sich in seinem Schaffen, gewissermaßen stellvertretend für den Körper. So hat er ein Paar Wanderschuhe so aufgeschnitten, wie man Äpfel schält. Das Resultat: Der Schuh bildet den Lebensweg des Menschen ab – bei Gormley kommt der Betrachter sehr schnell in symbolisches Denken. In einem anderen Fall hat er ein ganzes Kleidungsset – Oberbekleidung wie Hemd und Hose, Unterbekleidung und Socken – in dünne Streifen geschnitten und miteinander so verknotet, dass sich eine Art Boxring bildet, eine Sportarena also: Die Kleidung, unsere zweite Haut, als Schauplatz einer Aktion, das Leben letztlich nichts als ein Raum zum Kampf.

Diese Beschäftigung mit dem Körper geht weit über die menschliche Figur hinaus, sie bezieht auch das ein, was der Körper braucht, um Körper zu werden oder zu bleiben, die Nahrung. So hat Gormley Äpfel in allen Wachstumsstadien in Blei eingeschweißt und der Größe nach in einer Reihe auf dem Boden platziert. Auf diese Weise bekommt man ein Gefühl für das Verhältnis von Masse, Volumen und Wesen, denn auch in seinen Anfängen ist der Apfel ja bereits ein solcher.

Ein anderes Mal hat er einen ganzen Baum in zweitausend acht Millimeter dicke Scheiben zersägt, sodass man die Jahresringe des Baums sieht, zudem hat er sie kreisförmig wie zu einem riesigen Jahresring auf dem Boden ausgelegt – auch das ist noch ein Baum.

So stellen diese Arbeiten Fragen nach unserem Ich, unserer Umwelt, unserer Herkunft und unserer Vergänglichkeit, sie regen uns an, wie der Ausstellungstitel nahelegt, learning to be, und das nicht selten auf höchst unterhaltsame, witzige, und sehr plastische Weise.

ANTONY GORMLEY. Learning to be“, Schauwerk Sindelfingen bis 24.4.2022. Der Katalog erscheint im Herbst

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