Das Einst zum Leben erwecken: Die Kunst der Erinnerung von Julia Weißflog

Zucker, Eier, Butter, Mehl, etwas Vanille – mehr braucht es nicht für die süßen Madeleineküchlein. Durch Marcel Proust fanden sie Eingang in die Weltliteratur, denn ihr Geschmack entführt den Erzähler seines großen Romans Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in die Welt seiner Kindheit, und sie sind nicht die einzigen Auslöser für seine Erinnerungen an die Vergangenheit. Auch eine Melodie oder der Anblick von drei Bäumen in Balbec entführen ihn in die „verlorene Zeit“. Bei der jungen Graphikerin Julia Weißflog war es das Haus ihrer Kindheitstage, wie die Ausstellung der diesjährigen Preisträgerin des Holzschnitt-Förderpreises des Freundeskreises des Kunstmuseums Reutlingen zeigt.

Scheinbar Unwichtiges XXV, 2022. Foto: U. Schäfer-Zerbst

Es muss sie wie ein Schock getroffen haben, als ihre Eltern nach ihrer Scheidung das Haus verkauften, in dem Julia Weißflog ihre Kindheit verbracht hatte. Ubiquitär ist es in ihrem Werk seit einigen Jahren. Geisterhaft schweben Hausformen über ihre Linoldrucke, vor drei Jahren hat sie sogar versucht, den Grundriss des Hauses und seiner Zimmer auf Sperrholzplatten zu rekonstruieren und die Wandlinien mit Krepppapier aufgeklebt. Doch so, wie sich das jetzt als Installation in der Reutlinger Ausstellung dem Betrachter darbietet, ist es alles andere als ein Bauplan des Gebäudes, und damit hat Julia Weißflog genau das Wesen dessen erfasst und in Form gebracht, was Erinnerung ausmacht – denn nur das ist ihr ja von diesem Haus geblieben, die Erinnerung, und die ist nicht identisch mit der Realität von einst, nicht einmal ein fotografisches Abbild. Erinnerung des Einst ist stets ein Bild früherer Zeit und früheren Lebens und damit hochgradig subjektiv und niemals identisch gleich. So versucht Julia Weißflog auch nicht, das Haus in allen Details wiederzugeben, im Gegenteil, wir sehen gewissermaßen den Archetyp eines Hauses: weder Fenster, Türen oder gar Einzelheiten wie Fensterläden oder Türgriffe, nur den Hauskörper und das Dach – und das in den verschiedensten Erscheinungsformen: mal als Umriss aus dunklen dünnen Linien, mal als flächiges Gebilde in Hellgrau, mehr ein Schemen denn eine Realität, und auch damit trifft sie das, was Erinnerung ausmacht, im Kern: Erinnerungen tauchen nicht selten unerwartet auf, erscheinen wie in einem Nebel und verschwinden auch wieder darin. Es fehlt ihnen die Erdung im Hier und Jetzt, sie sind gewissermaßen ortlos, und doch sind sie präsent. Diesen Schwebezustand fängt Julia Weißflog durch ihren subtilen Umgang mit der Druckgraphik ein. Sie hat sich ganz auf den Linolschnitt konzentriert, jenes Druckmaterial, das sich vorzüglich für diffuse, in feinen Farbvaleurs changierende Flächen eignet, zumal sie für den Druck nicht nur die Presse verwendet, sondern mit Handfläche und -rücken differenziert das Papier an die eingefärbte Linoleumplatte andrückt und die Farbflächen auf dem Papier so zum Schwingen bringt.

Das Phänomen des plötzlichen Auftauchens von Erinnerungen wie aus dem Nichts oder des Verschwindens im Nirgends und Nichts fängt sie dadurch ein, dass sie ihre Graphiken nicht selten aus bis zu zehn verschiedenen Arbeitsschritten aufbaut; auf diese Weise werden ihre Bildwelten vielschichtig im wahrsten Sinn des Wortes, und da die Farbe meist sehr transparent auf das Papier aufgetragen wird, sind alle Schichten präsent, gewinnen mal mehr an optischem Gewicht, mal weniger. So sind diese Bildwelten, obwohl eindeutig zweidimensional flächig wie Druckgraphiken eben sind, von unerwarteter Tiefe – auch das ein Charakteristikum von Erinnerungen zumal an weit zurückliegende Phänomene, die wie im Traum zu taumeln scheinen, wenn wir versuchen, sie vor unserem inneren Auge festzuhalten, denn dort ist der eigentliche Ort für solche Bilder. Und Julia Weißflogs Bilder scheinen sich auch weniger vor unseren Augen zu befinden, mit denen wir durch die Ausstellung streifen, sondern in uns einzudringen und dort eigene Bilder hervorzurufen. Denn alle ihre Motive dürften jedem vertraut sein, weil sie sich auf allseits bekannte Dinge beschränkt – die Wäscheklammern zum Beispiel, mit denen ihre Mutter oder vielleicht sogar ihre Großmutter die Wäsche aufgehängt hat – und mit jeder weiter zurückliegenden Generation werden Erinnerungen ja verschwommener, fast märchenhaft. So geistern solche Klammern zu Dutzenden über die Bildflächen, neben den Hausformen oder auch sich mit ihnen überlagernd, denn Erinnerungen neigen dazu, mit anderen Erinnerungen zu verschmelzen, auch das zeigt Julia Weißflog auf diesen Bildern.

Scheinbar Unwichtiges XXXI, 2022. Foto: U. Schäfer-Zerbst

Neben den Wäscheklammern sind es Hände in skurrilen Gesten, mit denen ihr Großvater seinen Enkeln Schattenfiguren an die Wände warf. Diese Hände sind meist sehr realistisch dargestellt und wirken geradezu lebendig – denn Kinder schauen neugierig nicht nur auf die Schattenwelten an der Wand, sondern suchen auch herauszufinden, was sie hervorruft – hier sind sie in dunklem Schwarz und im Holzschnitt gedruckt. Und immer wieder schweben menschliche Figuren über die Flächen – mal liegen sie in den Häusern, mal daneben, mal scheinen sie wie Seelen aus den Häusern entweichen zu wollen, Geister der Vergangenheit.

Scheinbar Unwichtiges II, 2022. Foto: U. Schäfer-Zerbst

Wie technisch perfekt und raffiniert sie dabei mit ihrer Technik, der Druckgraphik, umzugehen weiß, zeigen die Bonbonpapiere, die ein weiteres wiederkehrendes Motiv darstellen. Es müssen transparente Bonbonpapiere sein, wir sehen nur die Knitterfalten der Papiere – mal als schwarze Linien, mal als traumhaft weiße Schemen. Sie scheinen schwerelos durch die Luft zu flattern. Sogar die Buchstaben auf diesen Papieren sind erkennbar – und das alles im Linolschnitt, der nicht gerade für filigran feine Drucklinien prädestiniert ist.

So hat Julia Weißflog mit diesen Arbeiten ein ganz persönliches Lebenskapitel aufgeschlagen, Erinnerungsarbeit geleistet mit Motiven, die doch jedem Betrachter zugänglich sein dürften, weil es ihr gelingt, die Grundformen von alltäglichen Dingen wiederzugeben, sodass man vor diesen Bildern beginnt, sich selbst zu erinnern – an die Wäsche aufhängende Großmutter, an die harten, sauren in Zellophanpapier eingewickelten Bonbons, an das Haus der Eltern oder Großeltern und die Träume, in denen all das auch früher schon aufgetaucht sein mag – von Dingen, die unwichtig wirken, aber doch eben nur scheinbar unwichtig sind, denn was an Erinnerungen ist schon unwichtig? Denn auch das gelingt Julia Weißflog mit diesen Arbeiten: Nicht nur Erinnerungen Gestalt zu geben, sondern dem Betrachter zu vergegenwärtigen, worum es sich bei der Erinnerung handelt – dem sich vor das innere Auge Rufen einer Zeit, die vergangen ist, aber durch die Erinnerung eben beileibe nicht verloren.

Julia Weißflog. Scheinbar Unwichtiges“, Kunstmuseum Reutlingen, Spendhaus bis 11.6.2023. Katalog, 48 Seiten

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