Das Theater mit der Wohnungssuche. Die Lage von Thomas Melle

420 000 Menschen waren im Jahr 2016 in Deutschland ohne Wohnung, vier Jahre zuvor waren es „nur“ 284 000; eine solche Steigerungsrate lässt für das Jahr 2020 Schlimmstes befürchten. Wohnraum ist knapp. Gentrifizierung, also Aufwertung oft ganzer Quartiere durch Sanierungm, lautet das Stichwort, Spekulation mit Wohnraum ist die Folge. Thomas Melle hat nun ein Stück zu dieser immer drängender werdenden sozialen Frage geschrieben. Tina Lanik hat es für das Schauspiel Stuttgart inszeniert: Die Lage.

Boris Burgstaller. Foto: Björn Klein

Etwas konsterniert sind die Personen, die sich soeben eine der wenigen freien Wohnungen ansehen, schon, als sie entdecken, das sich der Vormieter unter der Spüle in der Küche in einem Schlafsack eingenistet hat; er hat dort eine Art Restwohnrecht. Thomas Melle dreht in seinem neuen Stück immer wieder an der Absurditätsschraube, ohne sie jedoch zu überdrehen, frei nach Shakespeare: „Ist es Wahnsinn, hat es doch Methode“. Und die Wohnungssuchenden machen denn auch gleich gute Miene zum bösen Spiel, wie sie alles, was ihnen der Makler anpreist, bejahend wiederholen und zumindest nach außen hin für bare Münze nehmen: Luxussanierung, auch wenn der Putz bröckelt, sonnige Zimmer, auch wenn die Wohnung gen Osten liegt. Was bleibt ihnen auch übrig, es gibt keine Alternativen und sie haben bereits Dutzende solcher Wohnungsbesichtigungen mitgemacht, ohne Erfolg. Und die Makler wissen genau, dass sie heute Wohnungen nicht mehr anpreisen müssen, sie werden sie ohnehin los. Entsprechend mimt Sebastian Röhrle einen solchen Makler mit kalter Arroganz, der sein Sprüchlein eher gelangweilt beiläufig abspult, als dass er mit echter Überzeugung dahinter stünde.

Und die Mietwilligen kommen ihm auf allen Ebenen entgegen: Schufa-Auskunft? Selbstverständlich! Bürgschaft der Eltern? Kein Problem. Ist alles in den Bewerbungsmappen hinterlegt, die es natürlich auch digital abzurufen gibt. Bereitwillig verzichten diese Wohnungssuchenden auf alles, was sie zu Individuen macht. Alle plappern dieselben Sprüche nach.

Marietta Meguid, Jannik Mühlenweg, Josephine Köhler

Konsequenterweise haben ihnen Stefan Hageneier und Lara Roßwag khakibraune bzw. blaue Kostüme verpasst, sodass sie wirken wie Zombies in einem amerikanischen Horrorfilm. Freiwillig geben sie alle persönlichen Wünsche auf, stellen ihre Persönlichkeit hintan, geben ihre Würde auf. Dass sie leise Mieter sein werden, versteht sich. Belegen müssen sie es durch ein Schnarchdiplom und ein Vorspiel, wie sie sich beim Sex aufführen. Wer hier von einem Makler oder einer Maklerin – die fünf Schauspieler schlüpfen in Tina Laniks Inszenierung in verschiedene Rollen – auf Herz und Nieren geprüft wird, zieht sein letztes Hemd aus oder lässt – buchstäblich – die Hosen fallen. Einen Zuschlag erhält von allen Bewerbern in diesem Stück keiner.

Und Thomas Melle macht deutlich, dass es sich hier nicht nur um ein rein fiktives Geschehen handelt. Während das Publikum – coronabedingt stark ausgedünnt – die Plätze aufsucht, hockt auf der Bühne bereits ein Akteur im Lotussitz vor sich hin lächelnd auf der Bühne. Er spricht die Zuschauer direkt an, als wären sie auf der Suche nach einem Platz in einer WG, und schon nach wenigen Sätzen schlägt das Lächeln auf dem Gesicht in verbalen Psychoterror um.

Die Regie stand vor einer Herausforderung. Thomas Melle hat kein Theaterstück im eigentlichen Sinn geschrieben. Er hat eine Art Symphonie aus Stimmen vorgelegt. In der Mitte der Textseiten die Hauptstimme – ein Makler, ein Wohnungssuchender -, am Rand Nebenstimmen, Einwürfe, Kommentare. Tina Lanik hat daraus in rascher Folge faszinierende Szenen entwickelt. Es gibt zwar keine Figuren im Text, sondern nur, wie es in einem Vorspruch heißt, „Personen in Wohnungen an Orten und Zeiten“, aber doch ergeben sich bei Lanik szenisch realisierte kleine Psychogramme etwa einer Frau, die sich nach der Wohnungsbesichtigung fragt, ob sie den Mann, mit dem sie sich das Objekt soeben angesehen hat, überhaupt weiter als Partner haben möchte. Wer sich nach manischer Wiederholungsart eines Thomas Bernhard über ein Flachspülklo aufregt, ist ja auch auf seinen mentalen Zustand hin zu hinterfragen. Und auch wenn alle Akteure durch ähnliche Kleidung ihrer individuellen Eigenart nach außen hin beraubt sind, gelingt es den Schauspielern grandios, die unterschiedlichen psychischen Dispositionen der Figuren zu verkörpern. Vor allem arbeitet Lanik mit ihrem Team die Konfrontation zwischen beispielloser Arroganz der Wohnungsanbieter und deprimierender Bereitschaft zur Selbsterniedrigung der Wohnungssuchenden heraus.

Eine logische Konsequenz aus dieser zur Selbstverleugnung zwingenden Situation wäre eine Revolte. „Barrikaden, Gebrüll, Schüsse“ heißt es denn auch an einer Stelle bei Melle. Tina Lanik hat eher Zweifel, ob hierin eine Lösung zu suchen ist. Sie setzt die Stelle als eine Art Videospiel um. Den Wohnungssuchenden bleibt eigentlich nur stille Resignation, wofür sie ein eindrucksvolles Bild findet. REVO LUTION sprayt ein Akteur auf die Küchenzeile in der Wohnung und setzt sich als Bindeglied zwischen die beiden Worthälften. Mehr Alternativen gibt es nicht.

 

Eine solche Tiefe freilich lässt Thomas Melles Text, so raffiniert er stellenweise komponiert ist, ein wenig vermissen. Das Thema hätte Gelegenheit geboten, nach Gründen für die „Lage“ zu fahnden, nachzuspüren, was die Situation aus den Menschen macht. Er hat letztlich kein Stück über die Wohnungsnot geschrieben. Seine „Lage“ beschränkt sich auf die konkrete Situation der Wohnungsbesichtigung, auf die Begegnung zwischen Wohnungssuchenden und anbietenden Maklern. Zu wenig für ein zentrales Thema unserer Zeit.

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