Der Alltag als Kunst: Ein Schriftsteller erkundet die Kunsthalle Göppingen

Mit einer Günther Uecker-Ausstellung fing es an, das Leben der Kunsthalle Göppingen, anno 1989 in einer Stadt, in der Kunst bis dahin allenfalls im Foyer der Stadthalle zu sehen war. Seither gibt es also einen eigenen Kunsttempel, wenn auch in einer Gegend, in der man derlei nicht unbedingt suchen mag. Doch der Ort entwickelte Leben, Kunst von heute, Avantgarde, oft noch ehe eine documenta in Kassel auf einen Künstler aufmerksam wurde. Nun konnte auch noch ein Literaturstipendium eingerichtet werden, benannt nach einem Dichter, der Göppingen nie zu Gesicht bekommen hat: Rainer Maria Rilke, und der erste Stipendiat, Kai Bleifuss, widmete sich in einem Buch sinnigerweise dem Genius loci, der Kunsthalle, wenn auch nicht der Kunst.

Der Rundgang durch die Kunsthalle beginnt bei der gläsernen Eingangstür. Nun sind Türen für fantasiebegabte Menschen stets ein Faszinosum, trennen sie doch zwei Welten voneinander: die Außenwelt und die Innenwelt. Der Schriftsteller sieht sogleich vor seinem geistigen Ohr die Besucher eintreten und hört buchstäblich, was sie sagen, während die Tür auf- und zugeht.

Danach hätte er sich in die Räume mit den Kunstwerken begeben können, doch ihn faszinierten die kleinen Dinge, die man gerne übersieht, obwohl ihnen gelegentlich höchste Aufmerksamkeit zuteil werden sollte wie etwa dem Flucht- und Rettungsplan im Fall eines Brandes. Es ist ein ganz normaler Fluchtplan. Der Standort ist eingezeichnet, sämtliche Räume finden sich, Türen, Ein- und Ausgänge, aber, so lässt Bleifuss in einem Dialog zwei Interessierte fragen, dient er tatsächlich zur Orientierung, kann man mit ihm die Kunsthalle identifizieren? Fehlen da nicht entscheidende Details wie etwa der übliche Bewegungsaböauf der Mitarbeiter, schließlich will man sich ja im Notfall nicht im Weg stehen. Vor allem: Müssten nicht Flammen eingezeichnet werden, damit man ihnen aus dem Wege gehen kann, und unversehens könnte ein solcher Plan zur abstrakten Graphik mit Realitätselementen mutieren.

Nahezu alles verwandelt sich unter dem prüfenden Blick des Autors. Die Decke beispielsweise. Man sieht noch Spuren der Verschalung mit Holzbrettern, als der Beton gegossen wurde – Relikte von Versteinerungen? Oder geheimnisvolle Graphiken wie die seltsamen Striche auf dem grauen Boden, die der Laie als Gebrauchsspuren identifizieren würde, die entstanden, als man beim Ausstellungsaufbau schwere Kisten über den Boden schleifte, die bei näherer Betrachtung aber zu Symbolen des Unvermeidlichen und ewig Gültigen werden, schließlich sind sie beim besten Willen nicht mehr wegzubekommen.

Selbst ein stillgelegter Lastenaufzug dient als Anregung zu Fantastereien wie einer rumpelnden Fahrt in die Unterwelt, wo einen die Röhren der Heizungs- und Lüftungssysteme auch gut und gern an sich windende Riesenschlangen denken lassen können. Und wenn dann der Feuerlöscher in der Ecke als Firmennamen das Wort „Heimlich“ trägt, sind der (aus-)schweifenden Fantasie keine Grenzen gesetzt.

Auch die Fotos, die jedem der kurzen Texte beigefügt sind, relativieren diese Gedankenflüge in magische Welten nicht. Da wird selbst das Bild vom Wasserhahn samt Spiegel und Papierhandtuchspender zum rätselhaften Gebilde, das, schließlich sind wir in einer Kunsthalle, durchaus auch zum Kunstgegenstand erhöht werden kann. Readymades gab es schließlich in dieser Kunsthalle bereits in den Ausstellungsräumen zu sehen – als Artefakte.

So verwandelt sich die Alltagswelt in eine Sphäre geheimnisvoller Realitäten, man verliert beim Lesen den festen Boden unter den Füßen – und landet am Ende sogar doch noch bei der Kunst, ausgerechnet vor der leeren Treppe, die hinauf zum großen Ausstellungssaal führt. Ausgerechnet hier, im Vorhof zur ästhetischen Glückseligkeit, verwandelt sich die Realität des Alltags in reine Kunst, denn während der Erzähler vor seinem geistigen Auge die Besuchergruppen die Stufen hinauf- und hinabschreiten sieht, entsteht genau das Bild, das Oskar Schlemmer als „Bauhaustreppe“ porträtiert hat. Die Kunstrealität hat uns wieder!

Kai Bleifuss, Das Eigenleben der Dinge. Ein Museum für versteckte Schönheiten. Kunsthalle Göppingen. 90 Seiten, 12.50 Euro

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