Die Welt als Bild – Marcus Schwier entdeckt Ravensburg

Entwickelt wurde sie im Koreakrieg – eine Fototechnik, mit der sich Landschaften auch bei geringstem Licht aufnehmen lassen. Diese Infrarotkameras zeigen uns nicht das optische Erscheinungsbild eines Gegenstandes, das uns durch die Lichtwellen zugänglich gemacht wird, sie geben die Wärmestrukturen einer Oberfläche wieder. So kann mit ihnen der Mediziner Entzündungsherde im Körper sichtbar machen, die Feuerwehr verborgene Glutnester aufspüren oder eben das Militär ein Gelände bei absoluter Dunkelheit observieren. Im Rahmen des Projekts „Fremde Blicke“ hat sich der Fotograf Marcus Schwier unter anderem auch mit dieser Technik auf den Weg gemacht, um Ravensburg zu erkunden.

Es entstanden Bilder, die selbst für alteingesessene Ravensburger Neuland präsentieren, und das auch ohne Infrarottechnik. Mit ganz normalem Fotoapparat konnte Schwier festhalten, was ihn in einer Privatbrauerei faszinierte. Entstanden sind zunächst einmal Dokumentationsaufnahmen. Wir sehen Berge alter Holzfässer, Relikte früherer Braujahrzehnte, wir sehen moderne, seidenglänzende Rohrsysteme, in denen heute der Gerstensaft fließt, aber wir sehen auch einfach nur einen leeren gekachelten Raum, in dem eine einsame Stahlleiter an der Wand lehnt. Unversehens wird aus einem Alltagsambiente ein geheimnisvoller Raum. Das Brauereigebäude, das von außen harmlos wirkt, entfaltet ein faszinierendes Innenleben, sofern es ein Fotograf mit dem entdeckenden Auge eines Marcus Schwier erkundet, denn der Blick durch den Sucher führt zu neuen Sichtweisen. So wird die Alltagsrealität zum Symbol menschenleerer Einsamkeit, das maschinelle Innenleben wirkt wie eine unheimliche Welt metallener Schlangengebilde.

Bei einem flachen Containerbau verstärkt die Fotografie die klare Linienführung des Behälters, indem sie das Bauwerk durch ein Metallraster festhält, das sich vor dem Gebäude befindet. Ein Fotograf, das zeigen diese Bilder, nimmt die Welt nicht einfach nur wahr, er entdeckt sie neu, er macht sich – und uns, den Betrachtern – ein Bild von ihr, und diese Bildhaftigkeit verwandelt.

Und sie stellt neue Bezüge her! So entdeckte Schwier noch ohne Kameraobjektiv mit bloßem Auge ein gelb angemaltes nüchternes Betongebäude. Für sein Foto dieses Baus ist er einige Schritte zurückgetreten, so dass auf dem Bild auch die grüne Wiese zu sehen ist, in der das Bauwerk steht, und in dieser Wiese haben Löwenzahnpflanzen gerade ihre Blütezeit. Das Bild erweckt den Eindruck, als habe sich der Architekt in seiner Gestaltung der Fassade ganz von der Natur leiten lassen.

Bei Nacht entdeckte Schwier einen einsamen Motorrollerfahrer in den dunklen Straßen der alten Stadt. Die Lampe des Gefährts strahlt auf, als wäre sie eine geheimnisvolle Signaleinrichtung, die nächtliche Besucher anlocken soll. Hierfür benutzte Schwier besagte Wärmelichttechnik, die erwärmte Elemente wie eine Lampe oder ein erleuchtetes Fenster in einem Haus über Gebühr hell erstrahlen lässt. Da kann auch einmal ein Flecken in einer Hofecke, der von der Sonne bestrahlt wird, heller glänzen als der Sonnenschein über den Gebäuden. Sinnvollerweise wählte Schwier hier die Schwarzweißfotografie, da sie derartige Kontraste deutlicher zum Vorschein treten lässt.

So wird Realität nicht nur festgehalten, sondern verwandelt – wie etwa auch ein kleiner Tümpel, bei dem die Bäume am Ufer mit ihren Laubkronen magisch weiß aufleuchten.

Bei Farbaufnahmen verändert Rotlicht die Farbstruktur. So verwandelt sich ein ganz normales Wohnhaus auf Schwiers Foto zu einer regelrechten „Villa Abendrot“.

Solche Fotografien regen zum Nachdenken an – über die Realität, unser Sehen und dessen Grenzen, über die Möglichkeiten des Fotoapparats und die Tatsache, dass ein Ausschnitt aus der Realität, denn nichts anderes ist ein Foto, ganz andere Gesetzlichkeiten aufweist als der Blick ohne das Kameraobjektiv. Schwiers Fotos fokussieren den Blick – und können insofern eine Schule des Sehens für künftige Stadtspaziergänge sein. Vielleicht nimmt der eine oder andere künftig dafür eine Kamera mit – nicht, um Fotos zu „schießen“, sondern einfach nur, um mit Hilfe des Blicks durch den Sucher (bei Kameras alten Typs) die Wirklichkeit zum Bild zu machen und dem Auge so neue Entdeckungen zu ermöglichen. Der Ausstellungsbesucher kann damit gleich im Kunstmuseum Ravensburg beginnen. Drei Aufnahmen zeigen ein von einem geheimnisvollen helleren Gebilde unterbrochenes helles Grau. Es ist eine kleine Stelle in der Architektur des Museums. Man sollte sich auf die Suche machen, um Marcus Schwiers Entdeckung selbst wiederzuentdecken.

(Bildrechte: Marcus Schwier)

Fremde Blicke. Marcus Schwier: Ravensburg“, Kunstmuseum Ravensburg bis 8.4.2018

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