Duchamp und die Folgen: Das Readymade macht Geschichte

Es war eine der folgenschwersten Revolutionen in der Geschichte der Kunst. 1913 montierte Marcel Duchamp ein handelsübliches Fahrrad-Vorderrad auf einen Hocker und erklärte es zum Kunstwerk. Es war das erste Readymade der Kunstgeschichte. Ein Jahr darauf tat er dasselbe mit einem ebenfalls überall erhältlichen Flaschentrockner. Das war der Beginn der Konzeptkunst, vor allem revolutionierte es den Kunstbegriff, denn ein Kunstwerk musste seither nicht mehr durch das Genie und die Fertigkeit eines Künstlers hergestellt werden, es reichte das Diktum: Dies ist Kunst. Das Positive für die nachfolgenden Künstler: Alles konnte in ihre Kunst eingehen. Die Kehrseite der Medaille: Was immer sie an Gebrauchsobjekten verwendeten – sie gerieten in Gefahr, epigonenhaft zu wiederholen, was Duchamp erreicht hatte. Eine Ausstellung in der Kunsthalle Göppingen zeigt, wie Künstler bis heute dieser Gefahr entgehen konnten.

 

Zwei Stühle stehen an einer Stellwand im Ausstellungsraum, Gebrauchsstühle, wenn auch von inzwischen klassischem Design. Indem Lasse Schmidt Hansen sie im Museumsraum platziert, erhebt er sie zur Kunst, macht aber auf den ersten Blick nicht viel mehr als einst Marcel Duchamp. Und doch ist seine Arbeit weit mehr als eine Wiederholung der Kunstgeschichte, denn die Objekte, die Duchamp für museumswürdig hielt, gehörten nicht in einen Ausstellungsraum: ein Flaschentrockner, ein Urinal. Zwei Stühle aber machen durchaus Sinn, zumal ihnen gegenüber ein Kunstwerk an der Wand hängt. Sie könnten also durchaus auch vom Museumsleiter als Sitzgelegenheit für Besucher aufgestellt worden sein. Hansen spielt also mit Duchamps Einfall und zugleich mit der Museumsrealität, er löst im Betrachter Fragen aus: Ist das nun Kunst oder Nutzutensil für den Museumsbesuch? Außerdem regt er zu Gedanken über die Normierung unserer Warenwelt an, denn die beiden Stühle, wiewohl mit derselben Produktionsnummer ausgezeichnet, unterscheiden sich minimal in der Größe.

Subtil, weil kaum merkbar hat er Duchamps revolutionäre Tat in ganz neue Dimensionen erhoben. Ähnliches gilt für Sylvie Fleury. Ihre Arbeit besteht aus Einkaufstüten von Boutiquen. Diese Tüten hätte freilich gut und gerne auch eine Museumsbesucherin dort auf den Boden abstellen können, die nach ihrem Einkaufsbummel einen Abstecher in die Kunsthalle gemacht hat, zumal die Tüten durchaus mit originalverpackten Waren samt Preisetikett gefüllt sind. Zufall oder exakte Planung? Alltagsrealität oder Kunst? Der Einfall verweist auf Duchamps revolutionäre Tat, geht aber weit darüber hinaus.

Wie auch das Treppengeländer, das Monika Sosnowska an die Wand hat anbringen lassen. Der Handlauf ist verbogen und ineinander verknäult, vor allem aber so hoch an der Wand angebracht, dass er als Nutzobjekt völlig sinnlos geworden ist – Kunst als Daseinsbereich, der von jeder üblichen Lebensfunktion befreit ist, ein Kantsches interesseloses Wohlgefallen. Geradezu philosophisch hat dies Alicija Kwade mit dem Phänomen Zeit vorgeführt. Auf einer Wanduhr rückt der Sekundenzeiger, wie es sich gehört, mit enervierender Gleichmäßigkeit vor. Jedesmal dreht sich dann aber die ganze Uhr um einen Sekundenschritt in die entgegengesetzte Richtung. Die Zeit schreitet voran, wie Minuten- und Stundenzeiger zeigen, und bleibt doch stehen.

All diese Arbeiten haben ihre gedankliche Genese in Duchamps folgenreichem Einfall. So ist es kein Wunder, dass diese Künstler sich immer wieder mit der Kunstgeschichte selbst auseinandergesetzt haben. John M. Armleder tat dies mit der Geschichte der Readymades selbst. Duchamps Urinal samt Flaschentrockner findet sich in dieser Installation ebenso wie Joseph Beuys‘ schwarzer Anzug, Yves Kleins Schwamm oder Dan Flavins Leuchtröhren. Doch seine Objekte sind allesamt noch sehr nah am Alltag. War Beuys‘ Sakko aus Filz, so hat sich Armleder ein Kleidungsstück von der Stange geholt, und seine Leuchtröhren sind nicht nur Lichtinstallation, sondern dienen ganz profan der Beleuchtung der Installation.

Raffiniert hat Mathieu Mercier aus schwarzen Regalleisten, blauen Plastikcontainern aus dem Baumarkt, roten Ordnern und einer gelben Arbeitsleuchte ein Bild à la Mondrian gebastelt. Guillaume Bijl hat gar ein ganzes Interieur für den Museumsraum nachgestellt.

Und dann gibt es noch die Künstler, die dem Readymade eine ganz neue Dimension verliehen haben wie Michel Verjux. Er hat sich damit begnügt, einen lichtstarken Projektor auf den Boden zu stellen, der einen kreisrunden Lichtfleck an die Wand wirft. Was ist hier das Readymade? Der Projektor, der überall käuflich zu erwerben ist? Oder vielleicht nicht doch eher der Lichtstrahl mit der Lichtprojektion an der Wand – ein vollkommen immaterielles Readymade, ein Widerspruch in sich. Oder sind es gar die Ausstellungsbesucher, die zufällig zwischen Projektor und Wand zu stehen kommen und ihr Schattenbild an die Wand werfen?

Duchamps Einfall war folgenschwer, vor allem aber hat er die Kreativität nicht erstickt, wie diese Ausstellung zeigt, sondern vielmehr in ungeahnte Dimensionen freigesetzt.

Der Duchamp Effekt. Readymade. Werke aus der Daimler Art Collection“. Kunsthalle Göppingen bis 26.2.2017

Hierzu findet sich auf Youtube ein Film von Horst Simschek und mir

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