Kunst „daheim“: Die Sammlung Kerp im Kunstmuseum Reutlingen/konkret

Man kann Kunst als Wertanlage sammeln, um kunsthistorische Epochen zu dokumentieren – oder aus ästhetischer Freude an Kunstwerken. Letzteres tat das Freiburger Ehepaar Kerp, auch wenn ihre Vorlieben zum größten Teil doch einer Kunstrichtung folgten, allerdings einer Richtung, die offenbar zeitlos ist, der konkret-konstruktivistischen. Die Erbin des Sammlerehepaars hat den größten Teil diese Sammlung dem Kunstmuseum Reutlingen für zehn Jahre zur uneingeschränkten Verwendung zur Verfügung gestellt. Das Museum präsentiert sie in einer ungewohnten Form.

Was für Kunstschätze! Die Sammlung des Freiburger Ehepaars Kerp beginnt chronologisch mit den frühen Vertretern der russischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Da scheinen sich lineare abstrakte Kompositionen von Natalija Gontscharowa und Michail Larionov in wahren Strichgewittern zu entladen – Meistervertreter des Rayonismus aus einer Zeit, die aus lauter „ismen“ zu bestehen schien. Alexander Rodtschenko ließ in abgerundeten prismatischen Gebilden bunte Formenexplosionen das Bildformat schier sprengen – Vertreter des „Linearismus“; alle drei Vorboten jener Begeisterung für das Tempo, das die italienischen Futuristen faszinierte, die durch Giacomo Balla vertreten sind.

Überhaupt kann man sich in der Präsentation dieser Sammlung an großen Namen berauschen: Adolf Fleischmann weist mit einem aus feinen Streifen bestehenden Bild auf die entstehende OpArt, deren Mitbegründer – und lange Zeit populärster Vertreter – Viktor Vasarely gleich mit drei Bildern vertreten ist, Bilder, die Bewegung vorgaukeln, und doch aus genau bemessenen und kombinierten Flächen bestehen. Josef Albers ist mit einem seiner Quadrate in der Sammlung, denen er Jahre seines Schaffens gewidmet hat, wobei in diesem Fall das Quadrat nicht in der Mitte schwebt, sondern an den Rand gerutscht ist und dem Bild etwas Unruhiges verleiht. Richard Paul Lohse wurde mit klar strukturierten, gleichfalls dem Quadrat verpflichteten Kompositionen in die Sammlung aufgenommen, während Sean Scully ein halbes Jahrhundert nach ihm das Quadrat fast organisch lebendig wirken ließ.

Dieser Hang zum Klaren, Konstruktiven prägt die Sammlung, was nicht heißen soll, dass die Bilder zur Symmetrie neigten, im Gegenteil: Irritation innerhalb klarer Formen wäre eher ein Charakterisierungsmerkmal, und das macht die Reisen des Auges durch diese Bildlandschaften zu ständigen Abenteuern. Da folgen horizontale Linien, die sich reliefartig von der Papierfläche abheben, bei Erich Buchholz mit ihren Abständen unterschiedlich großen farbigen Kreisen.

Buchholz ist ein Beispiel dafür, dass man nicht nur bei den großen Namen faszinierende Arbeiten suchen muss.

Nathan Cohen hat aus schlichten weißen, grauen und schwarzen rautenähnlichen Formen einen Kranz geschaffen, der mit dem Gegensatzpaar Grenze und Unendlichkeit zu spielen scheint. Beschränkung auf wenige Mittel zum Ausdruck größter Spannung kennzeichnet viele dieser Bilder. Bei Aurelie Nemours beispielsweise meint man, die zahlreichen kleinen Punkte auf weißem Grund, aus denen das Bild ausschließlich besteht, folgten exakt der quadratischen Grundform des Bildes, doch ein Nachzählen erweist das Gegenteil – und erklärt das leichte Flimmern vor den Augen, das man bei genauem Hinsehen verspürt. Und bei Jörg Glattfelder scheint ein graues quadratisches Gebilde durch den Raum zu schweben wie ein Rochen im Meerwasser, und man meint, es hebe gleich zum Flug ins Weltall ab, doch alles ist nur Malerei auf zweidimensionaler Fläche.

Die Sammlung, und damit der Gang durch diese Ausstellung, die von den rund zweihundert Arbeiten, aus denen die Sammlung besteht, knapp drei Viertel präsentiert, zeigt, wie ungemein vielfältig diese unter dem Signum konkret-konstruktivistische Kunst in der Literatur eingeordnete Richtung war und ist, sodass sie hundert Jahre bis heute bestehen konnte, während so manche andere Kunstrichtung in dieser Zeit auf- und wieder untergegangen ist.

Dass die Präsentation dennoch in sich geschlossen wirkt, liegt nicht zuletzt am Ausstellungskonzept. Es handelt sich um eine Privatsammlung, deren Bestand sich ganz den privaten Vorlieben der Sammler verdankt; die Arbeiten wurden denn auch nicht dafür erworben, im Depot als Beispiele kunsthistorischer Zusammenhänge zu lagern, sondern bildeten die Lebenswelt der Sammler. Daher hat Kurator Holger Kube Ventura, der im Kunstmuseum Reutlingen für die konkrete Kunst zuständig ist, das durch die Erbin der Sammler zehn Jahre lang über dieses Konvolut verfügen kann, gewissermaßen ein Wohnambiente als Ausstellungsrahmen kreiert – mit einigen wenigen Möbelstücken ein Spielzimmer angedeutet, ein Wohnzimmer, ein Schlaf-, Musik-, Arbeitszimmer, und die Werke entsprechend kombiniert.

So kommt man angesichts der Bilder von Victor Vasarely im Sportraum schon aus dem Gleichgewicht, wenn man nur die Bilder betrachtet, und bei einem Gitter aus blauen Linien vor gelbem Grund von Mario Nigro meint man, das nur wenige Zentimeter große Bild weite sich zu geradezu weltallgroßer Räumlichkeit. Da braucht man den Körper gar nicht erst mithilfe der im Raum stehenden Geräte in Bewegung zu versetzen, die Kraft der Kunst reicht da aus. Man darf mit Ausnahme der Kunstwerke aber alle Objekte benutzen, auch das Bett, wenn einem trotz der aufregenden Kunst der Geist müde werden sollte. Es ist der Versuch, die Museumsgewohnheiten der Besucher zu hinterfragen, Alltagsnormalität und Kunst zur Synthese zu bringen, wie das im Heim der Sammler ja der Fall war. Dazu gehört auch, dass die Eintrittskarte eine Art Dauerkarte für die ganze Ausstellungsdauer ist, schließlich muss man ja auch nicht Eintritt zahlen, wenn man die eigene Wohnung betritt, und das Katalogheft gratis mitgegeben wird.

Im Katalog selbst sind alle Räume dokumentiert, aber auf mehreren Seiten auch einfach nur die Wände mit den Kunstwerken – wie in einer herkömmlichen Kunstausstellung. Und siehe da: Die Kunst bräuchte die Räume nicht, wirkt aber möglicherweise durch sie anders als im musealen White Cube; die Räume aber wären ohne die Kunst bedeutungsleer. Sollte dieses Experiment aber dazu führen, dass man in Ausstellungsräumen künftig häufiger eine Ausruhgelegenheit in Form kleinerer Sitzecken bekäme, hätte diese Ausstellung sogar Zukunftswirkung.

Home[at]Museum. Eine Privatsammlung wohnlich ausgestellt“, Kunstmuseum Reutlingen/konkret bis 10.9.2023

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