Mathematische Fantasie: „Konkrete Progressionen“ im Kunstmuseum Reutlingen/konkret

Nichts sei konkreter als eine Linie, eine Farbe und eine Oberfläche, so formulierte es Theo van Doesburg 1930 in seinem Manifest der Konkreten Kunst. Es geht um Form und Farbe und deren gegenseitige Abhängigkeit und Beeinflussungen, um strenge, fast wissenschaftliche Erkundungen von Gesetzmäßigkeiten, die, so hat es sich in der Richtung ab den 50er Jahren entwickelt, vor allem in Serien durchexerzierbar sind. „Konkrete Progressionen“ nennt daher ganz folgerichtig die für konkrete Kunst zuständige Abteilung des Kunstmuseums Reutlingen ihre neue Ausstellung.

François Morellet, 52 x 4 N° 7, 2006 © VG Bild-Kunst, Bonn, 2023. Foto: U. Schäfer-Zerbst

Sind das einfach nur ornamental verteilte schwarze Dreiecke auf einem weißen Grund? Oder handelt es sich gar um einen abstrahiert gemalten Vogelschwarm in der Formation gen Süden? François Morellet hat hier natürlich nur abstrakte Dreiecke gemalt, und die auch noch präzis geometrisch in vier Reihen verteilt: zweimal Spitzen nach oben, zweimal nach links zur Seite. Aber dadurch erzielte er für das Auge den Eindruck einer immensen Bewegung, als verfolgten die seitlich gerichteten Gebilde einander und bewegten sich dabei auch noch im Oval, also einer Art Kreis: Dreieck und Kreis, Geometrie und Bewegung? Bei Morellet ist alles strikt der Mathematik geschuldet. Eigentlich müsste man bei ihm nur die Bildtitel auf den Schildchen neben den Werken lesen, die Bilder folgen dem „nur“. So heißt ein Bild von 1959 „Trames“ – also Raster – nebst den Zahlen 0º – 45º – 22,5º, die angeben, in welchem Winkel die Linien auf dem Bild zueinander stehen. Das Resultat für das Auge aber ist eine höchst bewegte Komposition aus lauter Dreiecken, in deren Zentrum gleichwohl eindeutig ein Kreis sichtbar ist.

Eine solche Verbindung geometrischer Gegensätze findet sich auch bei Vera Molnar. Die Meisterin der konkret-konstruktivistischen Kunst, die schon früh den Computer als Konstruktionsmittel zu Hilfe nahm und damit auch eine Vorreiterin der Computer-generierten Kunst war, hat bei einer Reihe von zehn Bildern die Frage gestellt, wie man ein Quadrat mit Kreisen füllen könne. Sie tut es, indem sie zuerst auf eine quadratische Fläche einen Kreis malte, dann zwei, dann drei usw. Die Reihe wird immer „ordentlicher“, immer quadratischer und endet doch gewissermaßen im formalen Chaos, fern von jedem Quadrat. Das ist geistreicher formaler Witz mit geometrischen Mitteln, und der findet sich bei ihr häufiger.

Vera Molnar, M comme Malevich, 1959-71, Ausschnitt © VG Bild-Kunst, Bonn, 2023. Foto: U. Schäfer-Zerbst

So hat sie eine vierteilige Arbeit zu Ehren von Kasimir Malewitsch geschaffen, dessen „Schwarzes Quadrat“ vor hundert Jahren eine Extremposition moderner Kunst bedeutete. Vera Molnar hat das M seines Nachnamens auf einem von vier zusammengehörenden Bilder jeweils um 90 Grad verdreht, so dass es an fünfter Stelle wieder als normales M auftaucht; das Ganze aus lauter Klebebändchen unzählige Male in einem riesigen Quadrat. Auf dem zweiten Bild hat sie die Drehung des Buchstabens leicht modifiziert, bis sich auf dem letzten Bildquadrat aus dem klaren Buchstaben M am Ende fast ein Chaos ergibt. Aus der Ordnung wird Unordnung. Das gilt sogar für so einfache Kombinationen wie der jeweils zweier grüner und schwarzer Kreise, bei denen man mit der Zählung bald nicht mehr mitkommt, und doch ist alles präzise durchgezählt.

So präzise wie etwa die Kreise von François Morellet. Er zeigt nur Segmente der Kreisform – die auch noch unterteilt und leicht versetzt. Das Resultat: Man erkennt den Kreis, und sieht doch streng genommen keinen exakten Kreis. Diese Synthese von genauer mathematischer Konstruktion und Gesetzmäßigkeit und Nichtnachvollziehbarkeit macht die Spannung seiner Arbeiten aus: Die Systematik ist spürbar, aber nicht mehr erkennbar, erst recht, wenn auf einem Bild gleich mehrere Rasterbilder übereinandergelagert sind und fast eine schwarze Fläche zeigen oder die Linien zweier Raster über Eck leicht gegeneinander verschoben sind. Die Mathematik lebt –

oder wird in ihrer Präzision in einem Geheimnis erst offengelegt: Vera Molnar hat die Zahlen in dem magischen Quadrat, das Albrecht Dürer vor einem halben Jahrtausend im Hintergrund eines Kupferstichs gezeichnet hat, mit Linien verbunden – und siehe da, es ergab sich ein präzises geometrisches Muster – das die Künstlerin einige Jahre danach noch verändert hat: Hommage à Dürer, dérangé, die im magischen Quadrat von Dürer verborgene geometrische Ordnung ist in Unordnung gebracht.

Ähnliche „Spielereien“ auf höchstem abstrakten geometrischen Niveau finden sich auch bei Hartmut Böhm. Auch er arbeitet mit leichten Modifikationen und zielt darauf ab, dass der Betrachter sich an geringfügige Veränderung gewöhne. So hat er schon 1959 mit einundzwanzig Jahren an der Akademie auf zwei nebeneinanderliegenden Quadraten Löcher so angebracht, dass sie, wenn beide Hälften der Arbeit übereinandergelegt würden, ein perfektes Lochquadrat bilden würden, so aber in der Verteilung der Löcher fast beliebig wirken.

Hartmut Böhm, O.T. (Bodenarbeit für Reutlingen),1991, Ausschnitt © Künstler. Foto: U. Schäfer-Zerbst

Ähnlich systematisch im Konzept und in der Ausführung, aber ebenso uneinsichtig und also fast chaotisch für das Auge ist seine 1991 für Reutlingen entstandene Bodenarbeit aus 190 handelsüblichen Betonplatten. Sie sind in ihren Abständen genauestens berechnet, und wirken doch spielerisch verteilt. Ähnlich seine Bodenarbeiten aus handelsüblichen Stahlträgern, die genau berechnet alle Kombinationsmöglichkeiten der Einzelteile durchspielen und doch auf den ersten Blick nahezu identisch wirken. Dasselbe gilt für seine schon vom Titel her anregenden Quadrate Vier mal anders. Und wer bei Böhms Progression gegen Unendlich nicht den Eindruck hat, die Arbeit aus nur sechs vertikalen Stahlstäben setze sich bis in die Ewigkeit fort, hat keine Fantasie.

Die aber braucht man gerade beim Spiel mit mathematischen Gesetzmäßigkeiten. So erkennt man mit einiger Vorstellungsgabe bei den Arbeiten von Manfred Mohr immer die Grundform des Würfels. In einem Film von 1973 führte Mohr vor, wie sich der Würfel in lauter Einzelstriche zerlegen und aus ihnen wieder aufbauen lässt. Schwieriger wird es schon, wenn er die perspektivische Zeichnung eines Würfels in mehrere Teile zerlegt und versetzt zusammenstellt.

Manfred Mohr, P-229 A, 1978 © Künstler. Foto: U. Schäfer-Zerbst

Dass er danach alsbald über die uns in der Geometrie vertraute dritte Dimension hinausging, ist fast schon selbstverständlich. Das Resultat ist, wie er selbst sagt, reines Gedankengebilde. Und auch wenn uns Normalsterblichen die genauen Konstruktionsmöglichkeiten zum Nachvollzug beim Betrachten fehlen, meinen wir doch noch, Würfel vor uns zu haben. Fragt sich nur welche.

Konkrete Progressionen. François Morellet, Vera Molnar, Manfred Mohr, Hartmut Böhm“, Kunstmuseum Reutlingen/konkret bis 14.4.2024. Katalog 139 Seiten, 10 Euro

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