Von des Gedankens Blässe angekränkelt? Der neue Abend am Stuttgarter Ballett: Creations XIII-XV

Texte in Programmheften zu Ballettabenden sind in der Regel nicht allzu ausführlich und geben meist nur einige wenige Hinweise zur Deutung dessen, was auf der Bühne zu erwarten ist, doch ist Ballett ja auch eine Sprache des Tanzes, nicht der Worte. Beim neuen Premierenabend des Stuttgarter Balletts mit Creations XIII-XV braucht man sich dagegen über zu wenig Text nicht zu beklagen.

Morgann Runacre-Temple: Averno. TänzerInnen: Matteo Miccini, Ensemble © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Eine ganze eng bedruckte Seite steuert die britische Choreographin Morgann Runacre-Temple zu ihrem neuen Stück bei. Es geht um das existenzielle Thema „Warten“, greift die griechische Mythologie um Hades, den Gott der Unterwelt, und Persephone auf, die Tochter der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter, die Hades ihrer Mutter raubte, es geht auch um der Deutschen liebstes Kind, das Auto. Mit dem Titel Averno spielt sie zudem auf einen Gedichtband von Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück an und auf einen See bei Neapel, der in der Antike als Eingang zur Unterwelt galt.

Das alles wäre genug Stoff für ein abendfüllendes Ballett; Morgann Runacre-Temple begnügt sich mit einer halben Stunde und wird damit all diesen Themen allenfalls oberflächlich gerecht. So bringt sie für das Thema Warten eine Telefonzelle auf die Bühne, vor der eine Reihe von Figuren vergeblich einen Anruf erhofft. Gott Hades fährt aus der Unterwelt mit einem PKW auf und parkt vor einer Benzinzapfsäule, denn, so die Choreographin, aus der Erde komme neben Hades ja auch das Erdöl. Und das Geschehen, das tänzerisch nicht unbedingt zu den Höhepunkten choreographischer Kunst gehört, wird durch eine Videokamera live auf der Bühne verdoppelt. Immerhin: für Matteo Miccini und Mackenzie Brown findet sie dabei gelegentlich zu anrührenden tänzerischen Momenten. Zum anderen trauert verzweifelt die Mutter – gleich vierfach von Tänzerinnen und Tänzern (!) verkörpert – um die verlorene Tochter. Zuviel Stoff für das tänzerische Geschehen, zu dem der Betrachter allzu viele kulturgeschichtliche Anspielungen verstehen und nachvollziehen muss.

Da macht es Samantha Lynch dem Ballettbesucher vergleichsweise einfach. Ihr geht es um die Zeit, die allzu schnell verstreicht und die man, so eine mögliche Deutung ihres Stücks, allenfalls durch die Erinnerung behalten kann. Where does the time go? nennt die Erste Solistin am Norwegischen Nationalballett, die seit drei Jahren auch choreographisch tätig ist, ihre neue Arbeit. Sie zeigt darin im Grunde genommen ein Paar in unterschiedlichen Existenzphasen: einmal als Erwachsene, zum anderen im Kindesalter. Verdeutlicht wird das, so ist ihr Kommentar zu ihrem Stück im Programmheft zu lesen, durch einen Tisch, der im Verlauf des Stücks immer kleiner wird. Von einem „kleiner werden“ freilich ist nicht viel zu sehen; dieser Tisch besteht lediglich aus unterschiedlich großen ineinander verschiebbaren Möbelstücken, wie man sie in jedem Einrichtungshaus zur variablen Ausgestaltung des Wohnzimmers findet. Deutlicher ist da schon die Pendelleuchte, die sich über dem zweiten Paar bedrohlich aus der Höhe herablässt.

Samantha Lynch: Where does the time go? TänzerInnen: Ruth Schultz, Alessandro Giaquinto © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Tänzerisch besteht das Stück im Wesentlichen aus zwei Pas de Deux, von denen der erste ein wenig an eine choreographisch inspirierte Tanzszene der 50er Jahre erinnert, der zweite in teilweise eindrucksvollen Gesten die Annäherung zweier Menschen beschreibt – von Ruth Schultz und Alessandro Giaquinto eindringlich getanzt. Doch choreographisch sind diese zwei Szenen wenig tiefschürfend. Das Ganze ist eingebettet in die Szenerie einer Kneipe, in der aus dem Nebenraum das Geschwätz der Gäste zu hören ist, die auf der Bühne zum Teil reglos wie dem Suff ergeben am Tisch hocken. Eine Philosophie der Zeit und ihres Verstreichens ist hier allenfalls am Rande ausgeführt. Immerhin: mit einer knappen halben Stunde Dauer hat die Choreographin genau das richtige Zeitmaß für ihre Arbeit gewählt. Hier stimmen – im Unterschied zur Arbeit von Morgann Runacre-Temple – Inhalt und Zeitmaß überein.

Vittoria Girelli: Sospesi. TänzerInnen/Dancers: Elisa Ghisalberti, Edoardo Sartori © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Das gilt vor allem aber für die neue Arbeit von Vittoria Girelli. Wie Samantha Lynch ist sie aktiv als wichtige Tänzerin im Stuttgarter Ballett und arbeitet seit drei Jahren auch choreographisch mit philosophisch tiefgründigen Themen um die Menschen und deren Zusammenleben. Auch sie gibt im Programmheft an, was sie zu ihrer Choreographie inspiriert hat: das utopisch-gesellschaftskritische Drama Die Vögel von Aristophanes und die skurril bis abstoßend fantasievollen Kreaturen auf den Gemälden eines Hieronymus Bosch.

Das kann man andeutungsweise an der Bühne und am tänzerischen Geschehen ablesen. Es ist angesiedelt auf einer gekrümmten Ebene, deren Seitenwände steil in die Höhe ragen. Was unten, gewissermaßen auf der Erde, vor sich geht, ist alles andere als erstrebenswert. Nach einer fast totenähnlichen Starre erwachen die Tänzer allmählich zum Leben, fangen an, sich untereinander kennen-, vielleicht lieben-, aber auch hassenzulernen. Was Vittoria Girelli – stets orientiert am Bewegungsrepertoire des klassischen Balletts, aber mit Variationen, die in unsere Gegenwart führen – hier zeigt, ist menschliche Existenz in allen ihren wünschens- und ablehnenswerten Facetten – kritisch, skeptisch beäugt von Wesen, die sich aus der Halbhöhe an den steil nach oben ragenden Wänden nach und nach auf die Erde wagen, um den Menschen beizubringen, wie man sich zu verhalten hat, wobei das wahre, weil konfliktfreie Leben sich eher in lichten Höhen abspielt – in der Schwebe gewissermaßen, wie der Titel des Balletts Sospesi nahelegt, wobei neben dem grandiosen Bühnenbild von Francesca Sgariboldi auch die Lichtgestaltung samt Schattenwirkung von Lukas Marian fasziniert.

Ob man auf diese Inspirationsquellen auch ohne Lektüre des Programmhefts kommt, ist fraglich, doch ist das Resultat, Girellis Choreographie, keine Bebilderung dieser Quellen, sondern ein daraus hervorgegangenes eigenständiges Stück um das Leben und die Unwägbarkeiten menschlicher Existenz – eindringlich, doch bei weitem nicht so tief schürfend wie ihre bisherigen Arbeiten.

Das Resultat: tänzerisch faszinierend wie beim Stuttgarter Ballett gewohnt, doch choreographisch nicht unbedingt ein Abend, der in jedem
Detail im Gedächtnis bleiben dürfte.

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