Vergangenheit als Trauma: Krzysztof Warlikowskis Inszenierung von Glucks Iphigénie en Tauride

Eine nicht abreißende Blutspur zieht sich durch die Geschichte des Atridengeschlechts der griechischen antiken Mythologie. Erst opfert Agamemnon seine Tochter Iphigenie, um von den Göttern Wind für seine Flotte gegen Troja zu bekommen, um also Krieg führen zu können. Göttin Diana aber rettet sie und bringt sie nach Tauris, wo sie als Priesterin für Menschenopfer zuständig ist. Bei seiner Rückkehr wird Agamemnon von seiner Frau und deren Geliebten ermordet, was wiederum Sohn Orest mit dem Mord an seiner Mutter rächt, weshalb er von den Rachegöttinnen dem Wahnsinn nahe gebracht wird. Doch in Glucks Oper Iphigénie en Tauride geschieht nahezu nichts, alle werden nur von Ängsten geplagt, und genau das hat Krzysztof Warlikowski zum Kernpunkt seiner Inszenierung an der Opéra National in Paris gemacht. Das war 2006, jetzt ist sie an der Oper Stuttgart auf die Bühne gelangt.

Renate Jett (Iphigénie, Schauspielerin, li.), Amanda Majeski (Iphigénie, re.). Foto: Martin Sigmund

Zwei Iphigenien gibt es in dieser Inszenierung, denn Warlikowski schreibt Glucks Oper gewissermaßen weiter. An deren Ende verkündet Göttin Diana das Ende der Götterrache und erlaubt Iphigenie mit ihrem Bruder Orest, den es nach Tauris verschlagen hatte, heimzukehren. Dort begegnen wir ihr als alter Frau in einem Seniorenheim, allerdings nicht in der Antike, sondern im Hier und Heute.

Renate Jett (Iphigénie, Schauspielerin, re.) und Damen der Statisterie der Staatsoper Stuttgart. Foto: Martin Sigmund

Warlikowski fügt immer wieder eine Glaswand zwischen Bühnenraum und Publikum ein, die zwar den Blick auf die Bühne erlaubt, in der sich aber zugleich der Zuschauerraum spiegelt. Das Publikum ist Teil des Geschehens, zumindest als heimlich beobachtender. Mit diesem Gedanken gelingt es Warlikowski, die Zeiten zu transzendieren, aus dem Drama um die Atriden der Antike wird ein Menschheitsdrama. Vor allem gewinnt er so eine Reflexionsebene zum Geschehen, denn die alte Iphigenie, eindrucksvoll dargestellt von der Schauspielerin Renate Jett, wird die Gedanken an das Erlebte nicht los. Immer wieder schaut sie sich alte Fotografien an. Wenn die junge Iphigenie sich im Gesang an ihre Kindheit erinnert, tritt stumm die ganze Familie von damals auf, wenn vom Mord Orests an seiner Mutter die Rede ist, wird er pantomimisch vorgeführt. Die Vergangenheit ist nicht vorüber, sie ist traumatisch Teil des ganzen Lebens. Raffiniert verquickt Warlikowski die beiden zentralen Figuren. Zu Beginn tritt die Sängerin im Goldbrokatkleid der Seniorenheimbewohnerin auf – Amanda Majeski gelingt hier eine schauspielerische Glanzleistung, wenn sie den unsicher staksigen Gang einer gebrechlichen Frau nachahmt -, dann wiederum schlüpft Renate Jett in das Brokatkleid, derweil die junge Iphigenie in rotem, später schwarzem Kleid vor die verzweifelte Aufgabe gestellt ist, wieder einmal Ankömmlinge auf der Insel den Göttern zu opfern, denn auch Taurerkönig Thoas ist von Ängsten geplagt. Immer wieder begegnen sich die beiden Iphigenien, ohne miteinander richtig in Kontakt zu treten, schließlich gehören sie verschiedenen Zeit- und Realitätsebenen an.

Amanda Majeski (Iphigénie, li.) und Renate Jett (Iphigénie, Schauspielerin, re.) Foto: Martin Sigmund

Einmal betrachten sich die beiden durch die Glaswand, die zugleich eine zeitliche Scheidewand ist: hinter der Wand das Heute im Altenheim, vor der Scheibe die Begegnungen zwischen Iphigenie, Orest und seinem Freund Pylades, die Handlungsebene in der Vergangenheit. Wenn die alten Damen Kuchen essen, dann sitzt die junge Iphigenie mit ihnen in einer Reihe, isst aber nicht mit. Jede Fingerbewegung in dieser Inszenierung ist in sich schlüssig, alles ist logisch durchdacht, und die Wirkung auf den Zuschauer von beklemmender Dringlichkeit.

Musikalisch ist die Produktion gleichermaßen faszinierend. Der Chor – im Orchestergraben platziert, schließlich hat er eine Art Alter Ego in den alten Heimbewohnerinnen – bleibt dem Fordern der Priesterinnen, endlich den Menschenopfern ein Ende zu setzen, nichts schuldig, klangschön und ausdrucksstark, ja wuchtig in einem. Jarrett Ott als Orest legt die Verzweiflung seiner seelischen Pein in seine Stimme, Elmar Gilbertsson drückt als Pylades seine Freundschaft mit Orest mit metallisch glänzendem Tenor aus, der gleichwohl zu drängendem lyrischem Ausdruck fähig ist. Vor allem gelingt es Amanda Majeski, zwischen Nihilismus in den leisesten Tönen und Anklagen an das Schicksal im Forte alle Zwischennuancen zu singen und Dramatik aus dem Gesang heraus zu gestalten. Grandios gestaltet sie die Traumvisionen, die dadurch heraufbeschworenen Ängste und die Todessehnsucht, denn nur durch den Tod meint Iphigenie, diesen sie verfolgenden Träumen entkommen zu können. Die ganze emotionale Tiefe und Schlagkraft, die Gluck im Orchester entwickelt, findet in Stefano Montanari einen Dirigenten, der die Orchesterforti geradezu in fieberhafte Dringlichkeit treibt, ohne zu forcieren. Er interpretiert ganz aus der Partitur heraus, neben den großen Ausbrüchen die intimen Klänge bei den Blicken in die Seelen, dazu unerbittlich die rhythmische Statuarik, mit der Gluck das Schicksal in Noten fasst, dass man seiner Vergangenheit nicht entkommen kann, dass man an die Folgen seines Tuns gefesselt bleibt.

Denn das ist das eigentliche Thema dieser Oper, das Warlikowskis Regie so grandios hervorzukehren versteht. Am Ende wirft er Fragen auf. Lässt Thoas Fremde auf der Insel tatsächlich nur opfern, also töten, um seiner Angst durch Bedrohung zu entgehen, oder ist die Opferung für ihn nicht auch Selbstzweck. Jedenfalls erscheint er hier in einer Zuschauerloge, wenn Orests Opfertod bevorsteht, und wird dort von Pylades getötet. Hat Iphigenie ihren Bruder tatsächlich verschonen können? Wir sehen nur in einer Videosequenz, wie das Messer an seinen Hals gelegt wird, das Messer, das die alte Iphigenie der jungen in die Hand gedrückt hat, als wolle sie in ihrer Erinnerung im Alter die Junge an die Unentrinnbarkeit solcher Pflicht erinnern. Am Schluss verkündet Diana zwar als Dea ex machina das Ende der Götterrache, ein etwas erzwungenes Happy End, doch Krieg und Todeswut haben damit nicht ein Ende. Die greisen Seniorinnen – wohl allesamt Offizierswitwen – legen die Ordensspangen ihrer verstorbenen Männer an, und die alte Iphigenie findet endlich den Tod, den die junge sich so sehnsüchtig gewünscht hat. Sie stirbt in den Armen ihrer Mitbewohnerinnen. Wenn es Perfektion auf der Opernbühne gibt, dann ist sie hier gelungen.

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