Vom Sinn zur Ästhetik: Şakir Gökçebağ im Museum Ritter

Sie stellten die künstlerische Freiheit des Einzelnen über alles, machten aus Alltagsobjekten Kunst: die Dadaisten. Marcel Duchamp erhob gar ein Pissoir zum Kunstwerk. Demgegenüber zählten für die Vertreter der Konkreten Kunst allein die Linie, die Fläche, das System. Der 1965 geborene Türke Şakir Gökçebağ, der seit zwanzig Jahren in Hamburg lebt und arbeitet, steht gewissermaßen zwischen diesen Polen, wie jetzt eine Ausstellung im Museum Ritter in Waldenbuch zeigt, und schlägt dabei so manche Volte: „Twists and Turns“.

Ein Regenschirm ist dazu da, das unter ihm Befindliche vor Nässe zu schützen. Dazu dient die Bespannung aus Stoff oder Plastik. Wenn diese fehlt, bleibt nur noch das Gestänge aus Streben, das nur den Zweck hat, die Bespannung aufzuspannen bzw. zusammenzufalten. Şakir Gökçebağ nun hat die Bespannung von Regenschirmen entfernt und lediglich dieses Gestänge übriggelassen, somit den Regenschirm seiner Funktionsmöglichkeit, mithin seines Sinns und Zwecks entledigt. Das Resultat: ein faszinierendes kreisrundes Gebilde aus dünnen Stangen, reine Ästhetik, ein Inbegriff von Ordnung. Mehr noch: ein Gebilde, das Einblick in das Funktionswesen eines Regenschirms eröffnet, ohne dass dessen Sinn noch erfüllt würde. Man muss bei Şakir Gökçebağ genau hinsehen und dabei genau nachdenken.

Gökçebağ zeigt, wie viel Ordnung in unserem Alltag steckt. So hat er aus einem in kleine Stücke zerschnittenen gelben Gartenschlauch ein scheinbar chaotisches Wimmelbild geschaffen – das doch, wie der Titel der Arbeit deutlich macht, einem strengen Gesetz folgt, dem des Goldenen Schnitts, der so vielen Bauwerken in dieser Welt zugrunde liegt, ohne dass wir ihn im Alltag auf den ersten Blick erkennen könnten. Genau das macht diese Arbeit augenfällig.

Sinn und Zweck, das machen seine Arbeiten deutlich, sind auch dann noch vorhanden, wenn der vordergründige Zweck eines Objekts außer Kraft gesetzt ist. Wie viel genau berechnete formale Ordnung hinter einem handelsüblichen Herrenhemd steckt, merkt jeder, der versucht, es wieder so zusammenzulegen, wie es in der Verpackung geliefert wurde. Şakir Gökçebağ hat Hemden in schmale Streifen geschnitten und perfekt quadratisch angeordnet: Perfection ist das Ergebnis dieser Quadratur des Hemdes, das deutlich macht, dass ausgerechnet der Kragen, der bei einem Hemd stets ins Auge fällt, sich einem solchen Ordnungskonzept offenbar widersetzt. Dagegen scheinen sich ausgerechnet die Gegenstände, die der ordentlichen Aufbewahrung von Kleidungsstücken dienen – nämlich Kleiderbügel – zu geradezu musikalisch freien Tanzbewegungen vorzüglich zu eignen.

Auch Toilettenpapier, das doch zweckdienlich dicht aufgerollt an die Wand gehängt wird, entwickelt unter seinen Händen ein erstaunlich ätherisches Eigenleben.

Nicht selten überführt Şakir Gökçebağ die uns vertrauten Alltagsobjekte durch leichte Eingriffe zu völlig neuen Dingen und Gesetzmäßigkeiten. Die zwei Meter lange handelsübliche Wasserwaage für das Handwerk hat er mithilfe von regelmäßig angebrachten Einschnitten gebogen. So erfüllen sie nicht im Geringsten mehr das, wozu sie gedacht sind – der Ermittlung der Waagerechten. Mit diesen „Wasserwaagen“ (englisch „spirit levels“) lassen sich allenfalls Globen in Form bringen bzw. abmessen. Dabei sind die Titel bzw. die Objektbeschreibungen von geradezu frappierender Wortwörtlichkeit: „Wasserwaagen, geschnitten’“ lautet die Objektbeschreibung zu den Spirit Arches.

Times Square heißt eine Arbeit aus acht Wanduhren; man denkt an den von pulsierendem Leben bestimmten Platz in New York, hat aber vor Augen genau das, was das Wort bezeichnet: ein Quadrat, das sich aus Zeitanzeigen, nämlich Zeigern von Wanduhren zusammensetzt. Doch Vorsicht. Von allen auf diesen acht Uhren angegebenen Uhrzeiten entsprechen gerade einmal zwei tatsächlich möglichen Zeitanzeigen, die übrigen sind rein fiktiv, folgen der geometrisch angestrebten Ordnung, nämlich dem Quadrat. Und was wie eine „Neuordnung“ (Reorientation) von Bodenbelägen aussieht – in Kreise geschnittene Orientteppiche -, ist in Wirklichkeit auch zu deuten als eine gedankliche Rückkehr des gebürtigen Türken zu seiner Heimat. Es ist eine Re-Orientierung.

Şakir Gökçebağ befindet sich damit zwischen spielerischem Dadaismus und systematisierter Konkreter Kunst, zwischen Serialität und Unikatkunst, zwischen Ernst und Heiterkeit – ein Grenzgänger in der Welt der Kunst. Er entleert die Objekte unseres Alltags ihrer Funktion, er nimmt ihnen gewissermaßen ihren Sinn. Doch gerade durch diese Entsinnlichung werden sie sinnlicher, als sie es je im Alltag waren, entwickeln sie eine „Sinn-Ästhetik“. Man muss nur den Blick dafür entwickeln.

Şakir Gökçebağ. Twists und Turns“, Museum Ritter, Waldenbuch, bis 16.4.2023. Katalog 40 Seiten, 15 Euro

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