Von der Realität auf die Ballettbühne: Cecil Hotel von Andrey Kaydanovskiy beim Bayerischen Staatsballett

Abgesehen von der Tragik für die unmittelbar Betroffenen ist ein Todesfall in einem Hotel auch für den Hotelier eine unangenehme Angelegenheit, über die wenig gesprochen wird. Erst recht gilt das für einen unnatürlichen Tod, also einen Mord. Im Cecil Hotel in Los Angeles freilich war das eine Zeitlang schon nahezu Normalität, denn 1984/85 war ein gewisser Richard Ramirez hier während seines Hotelaufenthalts für vierzehn Morde in der Umgebung verantwortlich und einige Jahre danach der österreichische Serienmörder Jack Unterweger für drei im Hotel selbst. Außerdem fand man 2013 die Leiche der jungen Elisa Lam im Wasserversorgungstank auf dem Hoteldach. 2019 wählte Andrey Kaydanovskiy dies als Vorlage für eine Choreographie am Bayerischen Staatsballett, die jetzt als Stream im Internet verfügbar ist.

Ensemble © S. Gherciu

Und so tauchen denn bei Andrey Kaydanovskiy alle relevanten Figuren auf: Elisa Lam wird am Ende des Stücks in einer Badewanne ertränkt aufgefunden und neben der Wanne aufgebahrt, und Richard und Jack befinden sich in diesem Ballett gleichzeitig im Haus und sind mit der Beseitigung ihrer Opfer beschäftigt. Kriminalballett nennt Andrey Kaydanovskiy das, und damit trifft er das, was er da erfunden hat, sehr genau. Allerdings hat er keinen realistischen Krimi auf die Bühne gebracht, sondern eher eine Kriminalgroteske. Man spürt fast so etwas wie Mitleid, wenn man den beiden Mördern zusieht, wie sie verzweifelt versuchen, ihre Opfer unbemerkt zu beseitigen. Es ist, so das Fazit dieser ersten Szenenrunde in dem Ballett, gar nicht so einfach, eine Leiche verschwinden zu lassen.

Ksenia Ryzhkova, Jonah Cook © Wilfried Hösl

Wie Jonah Cook als Mörder Jack sich abmüht, die von ihm umgebrachte Prostituierte (als solche eindeutig an der Kleidung zu erkennen) mithilfe eines Teewagens fortzuschaffen, und Jinhao Zhang als Richard, sein Opfer in einem Teppich zu verstecken, sind Kabinettstücke sondergleichen. Grandios, wie diese Tänzer so tun, als wären die Körper der beiden Opfer leblose Puppen; und wie die Tänzerinnen Ksenia Rhyzhkova und Carollina Bastos sich wie widerspenstige Puppen bei diesem Treiben gerieren, ist große Tanz- und Schauspielkunst.

Kaydanovskiy hat das Repertoire der Filmkomödie sehr genau studiert, es findet sich alles bei ihm, vom Verwirrspiel mit den verschiedenen Hotelzimmertüren, die sich immer im falschen Moment öffnen, bis zu den immer überraschend auftauchenden Zeugen. Aber zugleich hält er sich auch genau an die historischen Vorkommnisse. So ging die Polizei beim Tod der Elisa Lam von einem Selbstmord aus, zumal sie sich, wie die Videoaufzeichnung im Fahrstuhl zeigt, bei einer Liftfahrt etwas seltsam benommen haben soll, und also findet sich auch eine Liftfahrt in diesem Ballett. Allerdings erlaubt sich Kaydanovskiy, kriminologisch Position zu beziehen, auch das gehört ja schließlich zu einem Krimi. Also erklärt er Elizas Benehmen damit, dass der Lift zwischen zwei Stockwerken steckenblieb. Das alles wird tänzerisch pantomimisch mit raffinierten Lichteffekten auf der Bühne realisiert. Damit greift Kaydanovskiy zwar die Realität auf, führt sie aber stets über in die reine Kunstform des Tanzes.

Ensemble © S. Gherciu

Und Elisa geistert immer wieder als Untote umher, vervielfältigt sich am Ende sogar.

Zugleich gelingt es ihm aber auch, die Struktur eines ganz „normalen“ Krimis auf die Bühne zu bringen. Im Krimi versucht ja der ermittelnde Kommissar vom Fund der Leiche an schrittweise das, was zu dieser Tat geführt haben mag, zurückzuverfolgen. Kaydanovskiy macht das ähnlich, indem er in mehreren Szenenfolgen die Uhr immer einige Stunden zurückdreht. So ereignen sich in der zweiten Szenenfolge die beiden Morde, in der dritten spitzen sich die Auseinandersetzungen zwischen Mörder und späterem Opfer zu, und in einer der letzten Runden sind alle noch am Leben und gehen ihrem Tagesgeschäft nach: Die Prostituierte klopft an die Tür ihres Freiers, das zweite Opfer checkt gerade im Hotel ein. Und Elisa geistert immer wieder als Untote umher, vervielfältigt sich am Ende sogar.

Der Zuschauer schlüpft dabei in die Rolle des Kommissars und stellt unablässig Mutmaßungen darüber an, was geschehen sein mochte und aus welchem Motiv heraus. Das ist witzig, unterhaltsam, stets in sich logisch und mit sehr viel Fantasie und tänzerischem Können realisiert. Mit dieser Szenenstruktur führt Kaydanovskiy tatsächlich einen Krimi vor, wie er uns aus den zahlreichen Fernsehfilmen her bekannt ist, und hat doch ein ganz neues Kunstprodukt auf der Bühne geschaffen.

Bleibt die Frage, ob die enge Anlehnung an das echte Cecil Hotel und die mörderischen Vorgänge nötig waren, denn dass es hier um Mord geht, wird schon deutlich, ehe das Licht angeht. Im Dunkel des Theaterraums ertönt das Geräusch von plätscherndem Wasser durchbrochen von ein paar verzweifelten Atemzügen und Schreien. Dann ist Stille. Kaydanovskiys Fazit im Fall Elisa Lam: es war Mord. Dasselbe wiederholt sich am Ende des Stücks, bis dann eben Elisas Leiche in der Badewanne gefunden wird. Die Vorgänge im echten Hotel hätten als Inspiration zu einem solchen „Kriminalballett“ ausgereicht, man hätte das Ganze auch einfach nur Mord im Hotel nennen können. Doch solche Einwände wiegen nicht schwer angesichts des komödiantischen Vergnügens, das dieses Ballett bereitet. Ob man sich im echten Cecil Hotel ein Zimmer buchen mag, muss jeder für sich entscheiden, ein Besuch im Hotel des Staatsballetts aber ist dringend anzuraten.

Das Ballett ist als Stream für ein Tagesticket bis 3.4.2021 verfügbar

https://operlive.de/montag16-cecil/

 

 

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