Welt zwischen Realität und Malerei: Roland Wesner

In der Regel erschließt sich Kunst immer mehr, je länger man sich mit ihr beschäftigt. Neue Details treten bei einem Bild in den Vordergrund, neue Zusammenhänge erschließen sich, ein Bild rundet sich, wird tiefer, in der subjektiven Deutung oft auch klarer, auch wenn diese subjektive Sicht naturgemäß stets mit einer Reduzierung möglicher Aspekte einhergeht. Bei den Bildern des 1940 geborenen und mit 47Jahren früh verstorbenen Malers Roland Wesner ist das anders. Hier gibt jeder weitere Blick auf die Bilder neue Rätsel auf, und das schon von Anfang seiner kurzen Karriere an, wie eine Ausstellung in der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen zeigt.

Die Versuchung des hl. Lukas, 1979

Das Thema des Bildes ist eindeutig, zumal der Titel es genau benennt: Der Evangelist Lukas, der Schutzpatron der Kunstmaler, macht das, weshalb er so verehrt wird: Er soll auf Wunsch der frühen Christen ein Porträt von der Jungfrau Maria gemalt haben, was er auf diesem Bild gerade tut. Und es ist auch eindeutig Maria. Roland Wesner hat sich genau an die traditionelle Ikonographie gehalten: Marias Umhang weist das typische Blau der Himmelskönigin auf, die entblößte Brust verweist auf das Bild der Maria lactans, der stillenden Mutter. Aber dann fängt man an zu rätseln. Was ist das für ein Bild, das Maria fixiert. Sind die beiden roten herabfließenden Linien Blutstreifen, und wenn ja, wessen Blut? Wo ist das Christuskind, wenn sie schon die Brust zum Stillen entblößt hat, oder soll die Brust eher ein erotisches Bildelement sein, doch dann passte es nicht zur typischen Madonnenikonographie, könnte aber für den hl Lukas eine Versuchung sein.

Lobster (Tischgespräch), 1965

Wesners Bilder geben Rätsel auf. Das war schon früh der Fall. Da widmete er sich gern dem Genre Stillleben, und auch da scheint zu Beginn immer wieder alles ganz klar und eindeutig. Lobster heißt ein Bild von 1965, Wesner war da gerade einmal fünfundzwanzig, und der Hummer ist auch deutlich zu erkennen, zentral im Bild. Er scheint bereits fertig zum Verzehr aufgetischt zu sein, denn er ist umgeben von anderen Ingredienzien einer Tafel: einer Esskastanie, einer Frucht, einem Trinkkelch, einer Vase. Aber all das ist nur angedeutet, wie zufällig über die Bildfläche verteilt und nie ganz richtig ausgemalt, sieht man von dem titelgebenden Tier einmal ab. Wesner baute seine Bilder aus Versatzstücken auf, und so verband er auf solchen Bildern verschiedene Epochen der Kunstgeschichte. Die Zutaten für die Tafel könnten der flämischen Stilllebentradition entnommen sein, dazu würden auch die kräftigen Farben passen. Aber dem Bild fehlt die perspektivische Tiefe, die diesen alten Bildern eigen ist. Wesner malte seine Stillleben eher wie Cézanne, flächig, alles liegt nebeneinander, ohne Unterschied. Mehr noch. Er zeigt die Bildelemente nur bruchstückweise, so als hätte er dem Stillleben in der Tradition der Flamen und eines Cézanne noch die kubistische Technik der Zersplitterung hinzugefügt.

Wenn er, was in diesen Jahren oft geschah, solche Esstische durch Figuren ergänzt und so ganze „Tischgespräche“ darstellte, sind die Köpfe der Teilnehmer dieser Tafel über das Bild verteilt, in unterschiedlicher Größe und aus unterschiedlichen Perspektiven, Picasso kommt so andeutungsweise mit ins Spiel. Und der Hintergrund dieser Bilder ist meist reine Farbmalerei in faszinierenden Farbmischungen – das Stillleben wird abstrakt.

Dieser Hang zur Abstraktion verstärkte sich Anfang der 70er Jahre. Die Bildelemente werden weniger leicht deutbar. Statt Gesichtern oder Nahrungsmitteln tauchen nun amorphe, organisch wirkende Gebilde auf, die nicht selten erotische Konnotationen haben. Ganze Körper oder auch nur Körperteile ergeben sich aber nicht daraus. Kombiniert werden sie mit rein abstrakten Bildflächen, plakativ aufgetragen, eine mögliche Reminiszenz an die soeben in den USA erfolgreich aufgekommene Pop Art. Ergänzt werden diese Bildteile durch stoffähnliche Muster. Und auch die Welt, wie wir sie kennen, dringt in diese Bilder ein – in Form von blauem, leicht wolkigem Himmel oder ein paar Bäumen. Nicht selten finden sich auch ganz abstrakte Elemente – weiße Linien, breite Farbstreifen oder Zierelemente.

ohne Titel, um 1973

Diesen Hang zur geometrischen Abstraktion führte er in einer weiteren Phase seines Schaffens fort. Da kommen Assoziationen an das Auge auf, zumal einige Bildelemente wie Pupillen wirken, andere wie Sehnerven, wie man sie in biologischen Lehrbüchern findet. Aber auch an die abstrakt-geometrische Form der Kugel lässt sich denken, wobei stets offen bleibt, ob die Kugel ein Gefäß ist, das Geheimnisse in sich birgt, oder ob sich der Inhalt der Gefäße nach außen ergießt.

Eindeutig ist bei Wesner nichts. Das gilt erst recht für seine letzte Phase, in die auch das eingangs erwähnte Bild mit dem hl. Lukas fällt. Hier scheint Wesner fast realistisch geworden zu sein, aber nur fast. Anregungen für seine Bilder bezog er, wie ein kleiner Schaukasten zeigt, aus Sammelelobjekten: Porzellanvasen, einem gehäkelten Puppenkleid, Muscheln. Sie finden sich immer wieder auf seinen Bildern, allerdings nicht unbedingt in der Form, wie wir sie kennen. Eine Vase gibt es auf einem Bild, doch statt eines Häkelkleids finden sich nur Flächen, die wie Gehäkeltes aussehen, abstrakte Bildelemente. Nicht selten umrahmt Wesner seine Szenen, die erstaunlich erzählerisch wirken, doch deren Inhalt man nicht wiedergeben kann, durch schwarze Balken. Das alles scheint der Welt entnommen, wie wir sie kennen, und ist doch aus einer ganz eigenen Sphäre, einer märchenhaften, traumhaften.

Stillleben mit Ludwigsburger Vase, 1983

Stillleben mit Ludwigsburger Vase heißt ein solches Bild. Die Vase ist erkennbar. Alles andere aber wird immer rätselhafter, je länger man das Bild betrachtet. Die Vase scheint vor einem Gemälde zu stehen, doch das Gemälde verlängert sich in den Raum, in dem es steht, zudem scheint eine Figur auf Stelzen aus dem umliegenden Raum in das Gemälde spazieren zu wollen. Und was wie ein Dielenboden am unteren Bildrand aussieht, ist genau genommen rein abstrakt: Es handelt sich um schräg verlaufende parallele schwarze Farbbahnen.

Lebenswelt und Abstraktion, Surrealismus und Poesie mischen sich in diesen Bildern. Da wächst aus einer scherenschnittartig gemalten Kaffeetasse ein Baum. Beide sind genauso groß wie die Häuser einer Stadt daneben, und riesengroß hängt dieselbe Tasse samt Baum kopfüber am oberen Bildrand nach unten. Es sind Bilder, die ihresgleichen suchen und die ein Verweilen davor zum Vergnügen machen, auch zum intellektuellen, wenn etwa Schiller auf einer italienischen Brücke porträtiert wird. Die Brücke ist andeutungsweise zu sehen, statt des Dichters aber findet sich nur ein Apfel – jenes Obst, das Schiller so gern in seiner Schreibtischschublade aufbewahrte, weil ihn der Geruch überreifer Äpfel offenbar zum Dichten inspirierte.

Utopie des stillen Seins. Roland Wesner. Eine Retrospektive“. Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen bis 6.9.2020. Katalog 96 Seiten, 22.90 Euro

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