Zwischen Grusel und Erkenntnis: Moulagen im Museum der Universität Tübingen

Sie zählten zu den großen Attraktionen auf Jahrmärkten und in Großstädten: Wachsfigurenkabinette – Panoptiken, in denen Berühmtheiten der Geschichte, aber auch anatomische Absonderlichkeiten und Gruselgestalten aller Art zur Schau gestellt wurden, lange vor Erfindung des Kinos, geschweige denn der 3-D-Filmtechnik. So hatte das berühmteste von ihnen, Madame Tussauds, bezeichnenderweise seinen Ursprung nicht in der Präsentation berühmter Persönlichkeiten aus Vergangenheit und Gegenwart; Marie Tussaud hatte die Köpfe berühmter Opfer der Guillotine während der Französischen Revolution modelliert. Schon hier mischten sich kunstfertige Nachahmung und Nervenkitzel. Von Letzterem ist heute in den Vergnügungseinrichtungen der „Tussauds Group“ kaum mehr etwas zu ahnen – ganz im Unterschied zu Wachsfigurensammlungen an der Universität Tübingen, die jetzt in einer Ausstellung öffentlich zugänglich sind.

Unbenannt

                                             

Ist das nun das Bild einer Madonna Dolorosa mit ihrem leidend nach oben gekehrten Blick oder eine Ausgeburt der Hölle? Kopfhaltung und Hautgestaltung stehen eindeutig in der Tradition sakraler Bilddarstellungen früherer Jahrhunderte, doch die seltsamen Hautverunreinigungen sind Folge einer perfiden Kriegstechnik des 20. Jahrhunderts: einer Senfgasvergiftung im 1. Weltkrieg, und diese Verunstaltungen waren denn auch der Anlass, dass diese Kopfplastik überhaupt hergestellt wurde. Solche Wachsabbildungen – Moulagen – sollten Medizinern zur Diagnose dienen. Daher finden sich in der Wachabgusssammlung der Tübinger Hautklinik selten ganze Figuren wie in den kommerziellen Wachsfigurenkabinetten. Gestaltet wurden lediglich die von der Hautkrankheit befallenen Körperteile, denn diese Moulagen boten angehenden Medizinern die Möglichkeit, Krankheitsbilder naturgetreu studieren zu können. Nicht selten wurden solche Modelle während medizinischer Vorlesungen von Hand zu Hand gereicht, damit der verbale Vortrag des Lehrenden anschaulich nachvollzogen werden konnte.

Geschaffen wurden sie von Spezialisten, die mithilfe von Wachsabdrucken naturgetreue Darstellungen von Hautphänomenen herstellen konnten, denn die reinen Wachsabdrucke waren zu ungenau, mussten von Hand nachbearbeitet werden, und diese Hand war nicht selten künstlerisch ausgebildet. 02_img_0799 (900x675)Eine der beiden in Tübingen im 20. Jahrhundert wirkenden Mouleurinnen, denen der umfangreiche Begleitkatalog zur Ausstellung ein kurzes Porträt widmet, nannte sich selbst „medical artist“.

So ordnet die Ausstellung diese der Naturwissenschaft dienenden Studienmaterialien denn auch in die große Tradition der Körpernachbildungen ein, und da kann man regelrechte Traditionslinien ausmachen. Florenz wurde das Mekka für derlei Gebilde, die zwischen Kunst und Wissenschaft angesiedelt sind. Das Naturkundemuseum „La specola“ konnte Ende des 18. Jahrhunderts mit fast dreitausend anatomischen Modellen aufwarten.03_specola-firenze-spellato-susini (900x675) Diese Sammlung sah der Tübinger Mediziner Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth – und erkannte die Bedeutung für die medizinische Forschung und Lehre. Zusammen mit dem Tübinger Verleger und Antiquar Wilhelm F. Haselmayer entwickelte er anatomische Wachsmodelle, die er in einer Publikation erläuterte. Er hätte keinen besseren Partner als Haselmayer finden können, denn dessen Vater war Wachsmodellierer – „Bossierer“ -, hatte bei italienischen Bildhauern gelernt und war in der württembergischen Porzellanmanufaktur in Ludwigsburg gelandet: Die genealogische Linie beginnt in der Kunst und endet im Dienst der Wissenschaft.

Kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe hatte auf die Bedeutung anatomischer Modelle für die Forschung hingewiesen – denn noch zu seinen Lebzeiten war es durchaus gang und gäbe, dass auf Friedhöfen Leichen als Anschauungsmaterial für die Universitätsausbildung gestohlen wurden.

Die Abbildungen in Wachs hatten für die medizinische Praxis mehrere Vorzüge: Die Krankheitsbilder konnten durch Detailabbildungen in Reinkultur vorgeführt werden, zugleich waren sie, da ganze Körperteile in Wachs abgebildet wurden, im Zusammenhang mit dem gesunden Gewebe gezeigt; Wachs verfügt zudem über die nötige Transluzenz, die der menschlichen Haut nicht unähnlich ist. Zugleich aber waren diese für die medizinische Lehre unverzichtbaren Gebilde Porträts von lebenden Menschen – also einzuordnen im Zwischenbereich zwischen Kunst, Kunsthandwerk und Wissenschaft. Sie könnten auch im Zeitalter der Computersimulation durchaus wieder Eingang in die Forschung finden – ein Ziel dieses von Studenten erarbeiteten Projekts des Museums der Universität Tübingen, denn echte Dreidimensionalität ist durch nichts zu ersetzen.

Krankheit als Kunst(form). Moulagen der Medizin. Museum der Universität Tübingen, Schlossmuseum bis 11.9.2016. Katalog 350 Seiten 24,90 Euro

Bildrechte © Museum der Universität Tübingen MUT

Ein Gedanke zu „Zwischen Grusel und Erkenntnis: Moulagen im Museum der Universität Tübingen

  1. Ron

    Danke !

    Goethe war für Wachsmodelle a la La Specola, weil „die wirkliche Zergliederung immer etwas Kannibalisches hat. »Geben Sie zu, daß der größte Teil von Ärzten und Wundärzten nur einen allgemeinen Eindruck des zergliederten menschlichen Körpers in Gedanken behält und damit auszukommen glaubt, so werden gewiß solche Modelle hinreichen, die in seinem Geiste nach und nach erlöschenden Bilder wieder anzufrischen und ihm gerade das Nötige lebendig zu erhalten. Ja es kommt auf Neigung und Liebhaberei an, so werden sich die zartesten Resultate der Zergliederungskunst nachbilden lassen. Leistet dies ja schon Zeichenfeder, Pinsel und Grabstichel…“ (Zitat, Goethe)

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