Auf den Straßen von Paris: Frank Castorf inszeniert Gounods „Faust“

Seit ihrer Uraufführung 1959 war sie ein Erfolg – Charles Gounods Oper Faust, und auf den französischen Bühnen hält dieser Erfolg bis heute an. Rund 5000 Mal kam die Oper hier zur Aufführung, und kein Sänger von Renommee ließ sich die Traumrollen entgehen – Nelli Melba, Lotte Lehmann, Mirella Freni gestalteten die Margarethe, Caruso, di Stefano, Domingo den Faust, Schaljapin, Pinza, Ghiaurov den Mephistopheles. Nur die deutschen Bühnen taten sich schwer, vielleicht wurde es lange als Sakrileg empfunden, dass der Faust des Dichterfürsten Goethe in Töne gefasst und noch dazu auf eine Liebesgeschichte reduziert wurde. Für die Oper Stuttgart hat Frank Castorf seine Sicht der Oper auf die Bühne gebracht, ein Regisseur, der berühmt ist für seinen bisweilen sehr eigenwilligen Deutungen der Stücke. Wer freilich einen Theaterskandal erwartet hatte, wurde enttäuscht.

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Mitglieder des Opernchors, Gezim Myshketa (Valentin), Foto: Thomas Aurin

Was für ein Schlussbild! Mephistopheles ist sich seines Sieges über Margarethes Seele sicher. In Frank Castorfs Stuttgarter Inszenierung gibt er ihr höhnisch seinen teuflischen Todeskuss, sie sinkt zu Boden, doch da ertönt aus dem Himmel auch schon das „Gerettet“. Margarethe erhebt sich, Mephistopheles zieht von dannen, doch ein solches Happy End, das wie von einem Deus ex machina kommt, ist dem Regisseur verständlicherweise suspekt. Bei ihm bleibt Margarethe allein auf der Bühne. An einem Bistrotischchen schüttet sie Tabletten in ein Glas und blickt sinnend darauf. Ob sie den Gifttrank ennehmen wird, bleibt offen. Vielleicht reiht sie sich ja auch nur ein in die Pariser Gesellschaft, in der Vergnügen bis zum Umfallen angesagt ist, sofern man auf der Sonnenseite des Lebens steht. Ansonsten bleibt nur die Gosse. Beides bringt Castorf auf die Bühne. Hatte er für Bayreuth den Wagnerschen Ring in ein Ambiente gesetzt, das versatzstückartig als Inbegriff der kapitalistischen Gesellschaft stehen könnte (und zumindest historisch weit von der Götterwelt eines Wotan entfernt war), so sucht er beim Faust gewissermaßen die Quellen der Oper auf: Er lässt sie zu der Zeit spielen, in der sie entstand, und das Paris, das er ähnlich versatzstückartig auf die Bühne bringt, ist eine Welt zwischen Amüsement (Faustwalzer), wahrer Liebe und Tod.

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Gezim Myshketa (Valentin), Atalla Ayan (Faust), Adam Palka (Mephistopheles) Foto: Thomas Aurin

Es ist ein Paris der Bars, der U-Bahnhöfe, der Obdachlosen und der Halbwelt. Der Kapitalismuskritiker Castorf macht deutlich, dass dies die Wiege des modernen Kapitalismus ist – und siehe da: Gounods Oper gibt ihm recht, entdeckt Margarethe doch ihre eigentliche Liebe so richtig erst, als sie den Schmuck entdeckt, den Faust ihr auf Betreiben von Mephistopheles hat zukommen lassen, in ihrer „Juwelenarie“. Deutlicher kann man die Nähe von Liebe und Geld kaum mehr zeigen.

Castorf deckt die Gesellschaftslügen auf, die in Gounods Oper stecken, schließlich ist der Komponist ein Kind seiner Zeit. Wenn die Soldaten mit großem Hurrachor aus dem Krieg zurückkommen, zeigt Castorf auf der Filmleinwand die grausame Realität eines solchen Kriegs, und diesmal ist es nicht ein Krieg im 19. Jahrhundert, diesmal ist es der Algerienkrieg im 20. Auch das ist durchaus schlüssig, denn der Kolonialismus, der da sein Ende fand, wurde begründet im 19. Jahrhundert.

Gewährsmann für diese kritische Sicht der Gesellschaft ist ihm ein Schriftsteller, der wusste, was er in seinen Gedichten zum Ausdruck brachte, denn er kam zur Welt, als Gounods Oper gerade ihre ersten Triumphe feierte, und alsbald wurde er ein scharfer Kritiker dieser Gesellschaft: Arthur Rimbaud. So ziehen sich Passagen seiner Prosagedichte „Demokratie“ und „Ausverkauf“ durch die ganze Aufführung, werden während langer Orchestervorspiele zitiert oder aber in den Übertiteln in die deutsche Übersetzung eingestreut. Castorf erweist sich als genauer Kenner sowohl von Gounods Oper als auch der Umstände, in denen sie entstand.

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Iris Vermillion (Marthe), Adam Palka (Mephistopheles), Mandy Fredrich (Margarethe) Atalla Ayan (Faust), Foto: Thomas Aurin

Das gesamte Geschehen auf der Bühne, auch hinter den Kulissen, wird von zwei Kameramännern gefilmt und auf Leinwänden gezeigt – meist zur Verdeutlichung der psychischen Realitäten, die hinter dem Gesang stecken. Die Kamerabilder werden aber nicht einfach nur auf eine Leinwand übertragen, vielmehr werden in einer raffinierten Bildregie die unterschiedlichsten Perspektiven gemischt und mit Bildern aus dem realen Paris vermengt. So entsteht ein ständiger Kommentar zum vordergründigen (gesungenen) Geschehen. Das Resultat ist ein aus unterschiedlichen Medien auf mehreren Ebenen stringent gewobenes Gesamtkunstwerk.

Marc Soustrot dirigiert die melodienschwelgerische Partitur, macht aber auch deutlich, dass der Faustwalzer nichts als atemlose Lust und Begierde verrät. So vereinen sich musikalische Deutung des Dirigenten und szenische Erkenntnis des Regisseurs.

Mit Mandy Fredrichs lyrischem und zugleich dramatischem Sopran, Atalla Ayans heldisch-lyrischem Tenor und dem stimmgewaltigen, ironisch-subtil eingesetzten Bass von Adam Palka ist unter Castorfs Leitung eine feinsinnige Deutung eines Werks des 19. Jahrhunderts gelungen, das auch für uns im 21. Jahrhundert seine Botschaft hat – nicht aufgesetzt, sondern sorgfältig aus der Partitur herausgearbeitet.

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