Archiv des Autors: Dr. Rainer Zerbst

Jung und schon vollkommen: John Crankos „Klassiker“-Abend am Stuttgarter Ballett

„Cranko Klassiker“ kündigt das Stuttgarter Ballett in seinem neuen Abendprogramm an – als ob diese Compagnie nicht seit Jahrzehnten die großen Cranko-Klassiker als Dauerbrenner im Programm hätte: „Romeo und Julia“, „Eugen Onegin“, „Der Widerspenstigen Zähmung“. Was jetzt als Crankos Klassiker an einem Abend präsentiert wird, sind genau genommen Frühwerke: „Pineapple Poll“ und „The Lady and the Fool“ schuf Cranko Anfang der 50er Jahre in London – da war an eine Karriere in Stuttgart noch gar nicht zu denken, denn es gab in Stuttgart kein eigenständiges Ballett, und da war er gerade einmal Mitte zwanzig! Was nichts über die Qualität dieser beiden Stücke aussagt!

Pineapple Poll Chr: John Cranko Tänzer/dancers: Robert Robinson (Captain Belaye) mit Schülerinnen der John Cranko Schule

Pineapple Poll. Tänzer: Robert Robinson (Captain Belaye) mit Schülerinnen der John Cranko Schule

 

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Wiederentdeckung nach 250 Jahren: Niccolò Iommellis „Vologeso“ in Stuttgart

Er zählte zu seinen Lebzeiten zu den begehrtesten Komponisten: der Italiener Niccolò Iommelli. Mit 35 Jahren war er bereits Vizekapellmeister am Vatikan, Papst Benedikt XIV., persönlich setzte sich für ihn ein, doch Iommelli folgte dem Werben des württembergischen Herzogs Carl Eugen, als dessen hoch dotierter „Oberkapellmeister“ er u.a. 21 Opern komponierte, die in Stuttgart, Ludwigsburg und Tübingen uraufgeführt wurden, darunter auch „Il Vologeso“. Zu Iommellis 300. Geburtstag brachte die Oper Stuttgart 2015 dieses Werk unter dem Titel „Berenike, Königin von Armenien“ auf die Bühne, in der Regie von Hausherr Jossi Wieler zusammen mit seinem Dramaturgen Sergio Morabito.

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Ana Durlovski, Catriona Smith, Sebastian Kohlhepp, Igor Durlovski, Helene Schneiderman, Mitglieder des Staatsorchesters Stuttgart. Foto: A.T.Schaefer

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Zum Raum wird hier die Farbe: rosalies „Lichtwirbel“ im Sindelfinger Schauwerk

Im Düsseldorfer Medienhafen klettern bunte Plastikfiguren die Fassaden empor. In Nürnberg überraschen ein flitzender und ein sitzender Hase auf dem Dach eines Hochhausübergangs, und vor der FILharmonie in Filderstadt bei Stuttgart locken grellbunte Lippenpaare die Blicke auf sich – Skulpturen der Stuttgarter Künstlerin rosalie. Längst aber hat sie den Weg von den bunten Kunststoffobjekten zu einem ungleich faszinierenderen Material gefunden, wie sie es spätestens in ihrem Bühnenbild zum Ring des Nibelungen in Bayreuth 1994 demonstriert hat: rosalie arbeitet mit Licht – und hat als neueste Kreation im Sindelfinger Schauwerk damit eine wahre Zauberwelt geschaffen.

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In eigener Sache

Über dreißig Jahre durfte ich für den Hörfunk die kulturellen Ereignisse im Land verfolgen – in erster Linie für den SWR. Das kann ich seit meinem Renteneintrittsalter für diesen Sender nicht mehr tun. So verabschiede ich mich auf diesem Weg von meinen Hörern, von denen ich erfreulicherweise viel positive Rückmeldung erhalten habe.

Vor allem bedanke ich mich bei meinen Kollegen in den verschiedenen Funkhäusern dieses Senders. Es ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Glück, wenn man über Jahrzehnte hinweg in unterschiedlichen Zusammensetzungen fast durchweg mit engagierten, interessierten und vor allem liebenswerten Menschen zusammenarbeiten kann, und ich hoffe, auch weiterhin den Kontakt mit ihnen pflegen zu können.

Meinen – nunmehr ehemaligen – Hörern bleibe ich über diesen Blog erhalten sowie über Filme auf Youtube, und damit bleibt mir auch der intensive Kontakt mit der Kultur erhalten, der ich mich so lange mit ganzem Herzen gewidmet habe, denn ein solcher Kontakt kann nur so intensiv sein, wie er es stets war, wenn er in eine kreative Auseinandersetzung mündet.

Meine Begeisterung hierfür bleibt mir also – und wenn andere an ihr teilhaben sollten, würde es mich freuen. Auf eine neue Zukunft also …

Rainer Zerbst

Miniaturen am Gürtel: Japanische Inrōs im Lindenmuseum Stuttgart

Trotz gelegentlicher Modeströmungen (etwa in den 80er Jahren oder auch wieder in jüngerer Zeit) tun sich hierzulande Männer mit Handtaschen schwer. Sie verstauen ihre Börsen und Taschentücher lieber in den Hosentaschen. Doch was, wenn die Männermode nicht über solche praktischen Accessoires verfügt wie im Japan früherer Jahrhunderte? Wer damals etwas auf sich hielt – und über das nötige Kleingeld verfügte –, investierte in „Inrōs“ – kleine Behälter, die mithilfe eines Knebels (Netsuke) am Gürtel getragen wurden. Und wie so oft in der japanischen Kultur ist alles sehr klein und sehr fein.

Fische und Tintenfisch, Japan, 19. Jh., Inv.Nr. OA 18.517, TI290, OA 19.365, TN 9072, Copyright L (601x900)

Fische und Tintenfisch. Japan, 19. Jh. © Linden-Museum Stuttgart, Foto: Anatol Dreyer

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Zweimal Krieg: Otto Dix und Paul Kälberer

In der Kunstgeschichte zählen Jahre oftmals weniger als im realen Leben. Otto Dix, geboren 1891, und Paul Kälberer, geboren 1896 – zwei Künstler, die sich in ihren jungen Jahren intensiv mit der großen Tradition der europäischen Malerei auseinandersetzen: Dix studiert in Dresden die Alten Meister, deren Maltechnik er später nachahmen sollte, experimentiert aber auch schon früh mit aktuellen avantgardistischen Strömungen wie Kubismus und Futurismus; Kälberer lässt sich auf einer Italienreise nachhaltig von der Frührenaissance anregen, an modernen Einflüssen fehlt es an der Stuttgarter Akademie, nachdem dort mit Adolf Hölzel die abstrakten Tendenzen ein Ende gefunden hatten. Entsprechend unterschiedlich verlaufen die künstlerischen Wege dieser beiden Maler, die jedoch ein zweites biographisches Detail verbindet: Beide melden sich gleich zu Beginn des 1. Weltkriegs freiwillig zum Dienst, beide erkennen aber schon sehr bald die katastrophalen Auswirkungen des Schlachtgeschehens, und beide halten künstlerisch fest, was sie dort erleben – jeweils auf ihre Weise.

 

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Altmodisch oder modern? Gustave Courbet und Carl Schuch

Der eine trat nicht selten wie ein Berserker auf und meinte, einen Schuss „Marktschreier“ könne ein Künstler gut brauchen: Gustave Courbet, der große Realist der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts. Der andere hatte es finanziell nicht nötig, für seine Kunst Reklame zu machen, arbeitete eher im Hintergrund – und ist heute entsprechend wenig bekannt: Carl Schuch, auch er zählt zu den großen Realisten des 19. Jahrhunderts – und ließ sich, knapp dreißig Jahre jünger als Courbet, von dem berühmten französischen Kollegen inspirieren. Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser beiden so konträren Künstlermentalitäten lassen sich nun im Kunstmuseum Hohenkarpfen und dem Stadtmuseum Hüfingen studieren.

 

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Das Rätsel als Normalität – Giorgio de Chirico in der Staatsgalerie Stuttgart

Wenn auf einem Bild ein Blick durch ein Fenster unversehens zu einem Gemälde auf einer Staffelei mutiert, denkt man an René Magritte, ziehen sich Ziffernblätter in die Länge, ist der Name Salvador Dalí bei der Hand, wenn Naturphänomene wie Blätter mit Szenen aus Trivialromanen kombiniert sind, deutet alles auf die Collagetechnik eines Max Ernst – alles Künstler, in deren Werken der Alltag ins Fantastische umkippt. Die Staatsgalerie Stuttgart zeigt nun in einer großen Ausstellung, dass diese Künstler möglicherweise einen ganz anderen Weg gegangen wären, wenn ihnen nicht ein Italiener maßgebliche Impulse gegeben hätte: Giorgio de Chirico.

 

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Apokalypsen mit dem Kohlestift. Robert Schneiders Reflexionen zu Verdun in Schloss Bonndorf

Fast fünfzig Jahre hatte Gerhard Richter in seiner Fotomaterialsammlung für künftige Gemälde Fotos aus dem KZ Birkenau aufbewahrt. Immer wieder hatte er diese Fotos künstlerisch verarbeiten wollen, doch ein Konzentrationslager, so befand Richter schließlich, könne man nicht abmalen. Das Resultat waren am Ende vier abstrakte Farbimpressionen. Der in Hamburg lebende Maler und Zeichner Robert Schneider hat sich über Jahrzehnte hinweg den großen Weltkatastrophen des 20. Jahrhunderts gewidmet – so etwa Auschwitz und Verdun, und kam zu einem ganz anderen Ergebnis.

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                            Verdun Nr. 1, Kohle/Karton, 102,5x150cm   © VG Bild-Kunst Bonn 2016                         

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Alte Druckgraphik im Computerzeitalter: Wolfgang Neumanns digitale Radierungen

Angefangen hatte alles mit Waffen- und Goldschmieden. Sie rieben Ruß in die Muster, die sie in das Metall geritzt hatten, und druckten die Platten auf Papier – als Werbung für ihre handwerkliche Fertigkeit; die Radierung war erfunden. Mit Dürer und Rembrandt erlebte das Verfahren eine frühe künstlerische Blüte – und wird bis in unsere Gegenwart von Künstlern hoch geschätzt, auch von dem 1977 geborenen Wolfgang Neumann. Er freilich führt sie auf seine Weise in die Kunst der Gegenwart weiter – wie eine Ausstellung im Hospitalhof in Stuttgart zeigt.

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Crloud, 2016 © VG Bild-Kunst Bonn 2016

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