Dünn, aber oho – die Linie als Alleskönnerin

Sie ist eine der ältesten Kulturformen der Kunst – die Linie. In alten Hochkulturen wurde sie in Ton geritzt, mit ihrer Hilfe wurden in Höhlen Tiere porträtiert, sie ist das Grundelement einer jeden Zeichnung. Die Renaissance unterschied die schöne geschwungene Linie von der starren, und im 20. Jahrhundert erfuhr die Linie eine neue Blüte im Werk eines Picasso oder Klee, nicht zuletzt weil sie im Grunde abstrakt ist, sich aber zu jeder Darstellungsform eignet. Dass die Linie eine Alleskönnerin ist, zeigt jetzt eine Ausstellung in der Galerie Stihl in Waiblingen.

Zugegeben, sie ist etwas zittrig, aber doch unschwer als Linie erkennbar, und trotzdem ist sie nicht eine kontinuierlich gezogene Linie, sondern eine Aneinanderreihung von winzigen Punkten. Katharina Hinsberg hat auf ein Blatt Papier freihändig eine Linie gezogen, dann ein Blatt darüber gelegt und versucht, diese Linie nachzuzeichnen – das Ganze 900 Mal; am unteren Papierrand ergab sich jeweils an der Kante ein Punkt. Übereinandergelegt ergeben diese Blätter einen Papierberg, an dessen Seite sich die 900 Punkte zu einer neuen Linie formieren – gewissermaßen eine künstliche Linie geboren aus lauter echten Linien. Das lässt sich als Kommentar zu einem Satz von Kandinsky verstehen, der in der Linie die Spur des sich bewegenden Punktes sah, oder zu Paul Klee, für den die Linie die erste bewegende Tat war.

Katharina Hinsberg spielt oft mit dem Phänomen Zeichnung, und also auch mit dem der Linie. Andere Arbeiten wirken wie ein Geflecht aus dünnen Linien, doch genau genommen war der Ausgangspunkt dieser Arbeiten das Gegenteil der Linie, nämlich eine Fläche aus Papier, aus dem die Künstlerin dann so viel herausgeschnitten hat, dass ein Liniengeflecht übrig blieb – alles aus einem Stück, da ist nichts geklebt.

Mit der Linie lässt sich trefflich täuschen. Thomas Müller zieht in eleganten Schwüngen unzählige Linien parallel nebeneinander auf das Blatt und erweckt den Eindruck einer dreidimensionalen Strömung. Der Gegensatz Linie – Fläche verschwindet, die Linie kann zur Fläche mutieren – allerdings nur, wenn sich das Auge täuschen lässt. Dann kann sie sogar Dinge vortäuschen, die es gar nicht gibt.

Hildegard Esslinger lässt Linien ein unsichtbares Objekt umkreisen – so der Titel einer ihrer Zeichnungen. Die Linien, anfangs ein schlichtes Linienraster, fangen an sich zu krümmen, scheinen eine Umhüllung zu bilden, doch was sie darin verbergen ist – ein Nichts, eben ein „unsichtbares Objekt“, ein Ufo der besonderen Art.

Die Linie kann zur Fläche werden, die Fläche zum Raum – allerdings benötigt der Künstler, wie etwa Thomas Müller, dafür sehr viele Linien. Karim Noureldin gelingt damit die Quadratur des Kreises. Schwerelos scheinen da Gebilde durch einen Bildraum zu schweben, doch der Raum ist nichts als ein zweidimensionales großes Blatt Papier, und die Flächen, die sich da elegant zu biegen scheinen, bestehen aus zahllosen dünnen Linien.

Aber auch die einzelne Linie ist mehr als nur ein graphisches Grundelement. Sie ist ja der unmittelbare Ausdruck der Künstlerhand, somit die Verlängerung des Körpers des Künstlers. Die Amerikanerin Linda Karshan bringt ihr ganzes Körpergewicht in die Linie ein, die Zeichnung ist unmittelbarer Ausdruck ihres Ichs.

Die Linie kann aber auch politisch eingesetzt werden. Nadine Fecht spannt nahezu zweitausend Kugelschreiber zu einem einzigen Zeicheninstrument zusammen und zieht sie gleichzeitig über das Papier: Das ist ein Kollektiv an Linien, doch jede einzelne Linie ist ein Individuum, mal dicker, mal dünner, mal rot, mal blau, mal tropfend, mal gleichmäßig verlaufend.

Die Linie kann alles darstellen – sich selbst als abstraktes Zeichenelement ebenso wie eine ganze Welt.

Pia Linz hat sich dafür in einen transparenten Polyeder aus Plexiglas gesetzt und von innen auf die Würfelseiten gezeichnet, was sie sah: einen Hinterhof in Berlin – das ist abstrakte Linie und realistisches Abbild zugleich. Kein Wunder, dass der griechische Maler Apelles Wert darauf gelegt haben soll, keinen Tag verstreichen zu lassen, ohne wenigstens eine Linie gezeichnet zu haben: Nulla dies sine linea, so berichtet es Plinius – Katharina Hinsberg gab ihren 900 Blättern mit je einer Linie dieses Zitat als Titel.

Die Linie ist Gedanke – Faszination Zeichnung“, Galerie Stihl, Waiblingen, bis 27.8.2017

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