Einzeln vereint – Geschwister in der Kunst

In der Psychoanalyse ist es erst relativ spät zum Thema geworden, obwohl es doch den größten Teil der Menschheit betrifft – das Verhältnis von Geschwistern im allgemeinen, von Schwestern und Brüdern im besonderen. Sigmund Freud hat ihm keine seiner zahlreichen Schriften gewidmet, befand aber, es müsse nicht unbedingt ein liebevolles sein, im Gegenteil, und ein Blick in die Bibel hätte ihn bestätigt: Da folgt auf den Sündenfall durch Adam und Eva unter deren Söhnen Kain und Abel der Brudermord. Eine Ausstellung in der Kunsthalle Tübingen spürt dem Wesen von Geschwistern in der Kunst durch die Jahrhunderte nach und beginnt mit der Mythologie.

Abel hat keine Chance. Mit beiden Händen holt sein Bruder Kain zum tödlichen Schlag mit der Holzkeule aus – für die Ausstellung in der Kunsthalle Tübingen wurde ein Gemälde aus dem 17. Jahrhundert auf Wandformat vergrößert. Ein brutaler Auftakt zum Thema, was Geschwister einander antun können. Dass es auch liebevoll geht, zeigt ein ebenfalls auf Wandformat vergrößertes Bild der Prinzessinnengruppe von dem klassizistischen Bildhauer Johann Gottfried Schadow, zwei Frauen in stiller Anmut und Selbstverständlichkeit traulich nebeneinander. Hass und Liebe, zwei Seiten einer Medaille? Die Graphiken mit Motiven aus der Mythologie zwischen den beiden Bildwänden scheinen dem Recht zu geben. Auf der einen Seite die unzertrennlich einander zugetanen Brüder Castor und Pollux, auf der anderen Romulus und Remus, an deren Anfängen zwar dieselbe „Amme“, eine Wölfin, stand, an deren Ende aber wie bei Kain und Abel der Brudermord steht.

Dieses krasse Spektrum lotete die Kunst danach nicht mehr aus. Vor allem die Bildnisse aus dem 18. und 19. Jahrhundert zeigen friedliche Koexistenz – wobei so manche dieser Bildnisse eher wie Porträts der nachwachsenden Generation wirken, möglicherweise als Erleichterung künftiger Eheanbahnungen. Dabei gelang Cornelis de Vos bei seinen beiden Kindern fast so etwas wie ein malerischer Schnappschuss zweier spielender Kinder, und das in einer Zeit, in der eher steife adlige Familienporträts in Mode waren.

Erst Ende des 18. Jahrhunderts werden dann Kinder tatsächlich als Geschwister dargestellt. So füttert die Ältere ihre beiden kleinen Geschwister, eine andere bringt der Schwester das Stricken bei – Bilder geschwisterlicher Verbundenheit und zugleich Hinweis darauf, welche Rolle die Mädchen künftig in der Gesellschaft zu spielen haben – die als Hausfrau und Mutter.

Die Verbundenheit freilich bleibt ein zentrales Motiv. Die drei jungen Schwestern aus Winterthur, die David Sulzer 1822 porträtierte, scheinen auf dem Weg zu einem ersten Ball zu sein, während die beiden 1901 von Rudolf Bacher gestalteten Frauen möglicherweise gemeinsamen Erinnerungen an einen solchen nachzuhängen scheinen – Unzertrennlichkeit ist das Motiv.

Dieses Zusammengeschweißtsein zieht sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung. Das gilt vor allem auch in schweren Zeiten. Erich Heckel malte 1937 zwei Brüder – von denen einer auf dem Totenbett liegt; verglichen damit nimmt sich das fast zeitgleich entstandene Bild seiner beiden spielenden Kinder von Otto Dix harmlos aus. Vierzig Jahre danach verarbeitete Miriam Cahn in großformatigen, aus wenigen Strichen bestehenden Zeichnungen ihren Schmerz über den Selbstmord ihrer Schwester.

Dieses Schicksal blieb vier Frauen erspart. Nicholas Nixon, Jahrgang 1947, fotografierte fast ein halbes Jahrhundert lang jedes Jahr seine Frau und deren drei Schwestern, stets in gleicher Konstellation, Gesicht neben Gesicht, und schuf so eine Chronik der verrinnenden Zeit, die doch in der Ähnlichkeit der Gesichter zugleich stehengeblieben zu sein scheint.

Sind die Schwestern auf diesen Fotos eindeutig miteinander verwandt, scheint Cindy Sherman deutlich machen zu wollen, wie unterschiedlich Geschwister sein können. Ihre vier Schwestern tragen zwar alle die gleichen runden altmodischen Brillen, sind aber ansonsten von ihrem Aussehen und vor allem ihrer Mentalität höchst verschieden. Dabei handelt es sich um ein und dieselbe Person: In einer Fotocollage hat die Künstlerin sich selbst viermal in verwandte Wesen verwandelt.

Und bei denen kann man sich durchaus einmal Zoff über die gemeinsamen Jahre hinweg vorstellen. Dass Geschwisterbeziehungen, wie Sigmund Freud andeutete, nicht unbedingt liebevoll sein müssen, wenn auch durchaus sein können, zeigen auf witzige Weise Christine und Irene Hohenbüchler auf einigen Zeichnungen, auf denen Geschwister mal fröhlich bei gemeinsamem Sport zu sehen sind, mal aber auch in einem hasserfüllten Clinch, der fast schon die Dimensionen eines Kainschen Brudermords hat. Ob das riesengroße Bild, das Gert und Uwe Tobias dem alten biblischen Thema gewidmet haben, noch etwas von der Martialität des Geschehens vermittelt, bleibe dahingestellt.

Unproblematisch jedenfalls ist das Verhältnis zwischen Geschwistern in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts keineswegs. Der Konzeptkünstler Christian Jankowski ließ von seinem Bruder Jochen aus Holz mit der Kettensäge grob vier Figuren zimmern. Im Gespräch mit ihm und einem Psychotherapeuten stellte er damit in einem Film Familienkonstellationen nach. Die vier Holzfiguren stehen neben der Leinwand, auf der dieser Film zu sehen ist. Sie sind für die Ausstellungsbesucher gedacht, die damit Ähnliches tun sollen, aber wohl meist aus Ehrfurcht vor dem Diktum, dass man Kunst in der Regel „nicht berühren“ solle, nicht tun.

Dabei sollten sie durchaus Hand anlegen, etwa auch bei dem weißen Holzbrett, das Erwin Wurm an die Wand gelehnt hat. Eine Zeichnung zeigt, wozu es dient. Zwei Menschen sollten es zwischen sich klemmen – und so körperlich erleben, dass sie dadurch zu einem Paar werden, und doch als Individuen voneinander getrennt bleiben. Das ist das Symbolbild dessen, was das Wesen von Geschwistern ausmacht – eine Erfahrung, die man anhand der Bilder in der Ausstellung gedanklich nachvollziehen kann, aber eben auch körperlich erleben. Man braucht dazu nur Wurms Brett – und einen Partner, im Idealfall eine Schwester/einen Bruder.

Sisters & Brothers. 500 Jahre Geschwister in der Kunst“, Kunsthalle Tübingen bis 16.4.2023, danach Lentos Kunstmuseum Linz 26.5.2023-17.9.2023. Katalog 173 Seiten, 36 Euro

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