Seiner Zeit voraus: James Ensor im Kunstmuseum Reutlingen

Es sei das schwärzeste Kapitel in der belgischen Kulturpolitik gewesen, als sie zuließ, dass James Ensors riesiges Gemälde Der Einzug Christi in Brüssel außer Landes in den Besitz des Getty-Museums in New York gelangte. Das war 1987, Ensor war da schon zwanzig Jahre tot und längst eine große Figur in der Kunstgeschichte, auch wenn diese sich mit seiner Einordnung schwer tat und ihn mal dem Impressionismus, mal dem Surrealismus, mal der fantastischen Malerei zuschlug. Er selbst sah sich als Maler der Masken, denn sie, die er im Kuriositätenladen seiner Mutter zuhauf erlebte, prägten seine Kunst- wie auch seine Weltsicht.

Der Einzug Christi in Brüssel, 1898, Sammlung Deckers, Ostende, Foto: Steven Decroos

Und auch der Einzug des Erlösers in Brüssel zeigt eine Gesellschaft der Masken. Die vielen Menschen, die dem Erlöser vorauseilen, tragen weitgehend Masken vor den Gesichtern, sind in Uniformen gekleidet, bilden insgesamt ein wahres Panoptikum an skurrilen Gestalten. Vor allem aber scheinen sie sich um die Hauptfigur des Ereignisses kaum zu scheren, ihnen ist er allenfalls symbolischer Anlass, sich in den Straßen zu versammeln und zu demonstrieren – mit Plakaten für den Sozialismus und für alles mögliche bis hin zu Colman’s Senf. All das ist auf der Radierung, die keineswegs eine detailgenaue Kopie des Gemäldes ist, sondern eine eigenständige Komposition, sehr viel präziser und schärfer herausgearbeitet.

Wenn das Kunstmuseum Reutlingen jetzt in einer großen Retrospektive dieses Künstlers dieses zentrale Werk als Radierung präsentiert, dann mag so mancher bedauern: „nur“, wie denn die Ausstellung ausschließlich dem graphischen Werk gewidmet ist. Und der Radierung hat sich Ensor zwar einige Jahre lang intensiv gewidmet, allein 1888 entstanden fünfundvierzig Radierungen, doch diese wenigen Jahre nehmen sich in der Biographie des 1949 mit fast neunzig Jahren verstorbenen Künstlers zumindest zeitlich gesehen marginal aus –

nicht jedoch künstlerisch. Ensors Malerei überwältigt den Betrachter nicht selten durch die krasse Farbigkeit, den groben Pinselstrich, in den sich alles aufzulösen oder hinter dem alles zu verschwinden droht. Im Umgang mit Pinsel und Farbe ist Ensor tatsächlich weitgehend ein Maler der Masken, und Maskenhaftiges findet sich auch in seiner Graphik. Wenn er das Strandleben von Ostende porträtiert, dann kann man das als Bild der munteren Freizeitvergnügung der Bevölkerung deuten, es ist aber zugleich durch das Phänomen Masse auch beängstigend, das so manche Bilder Ensors prägt und dem er skeptisch, wenn nicht gar ängstlich gegenüberstand. Wenn er einen Musikumzug in einer Straße darstellte, kann man sich lebhaft vorstellen, wie er aus dem Fenster der Mansarde im elterlichen Haus hinunterblickte, wo er sich ein Atelier eingerichtet hatte, und sich fragte, welchen Sinn das Treiben da unten denn wohl mache. Denn am Sinn menschlichen Tuns, vor allem, wenn die Menschen in großer Zahl dicht gedrängt auftraten, schien er gründlich zu zweifeln. Das Gewimmel der Menschen auf seinen Bildern ist Ausdruck einer grenzenlosen Sinnlosigkeit. Jeder der unzähligen Menschlein auf seinem Bild einer Kathedrale scheint ohne Sinn und Verstand unterwegs zu sein. Nicht nur seine Malweise, in der die Pinselstriche ein Eigenleben zu führen scheinen, machen Ensor zum Vertreter der Moderne, auch seine Sicht der Welt als Menschenmasse, als Theatrum Mundi. Ensors Szenen aus der Großstadt sind Symbole der Entfremdung und der Groteske.

Kein Wunder, dass zu seinen Lieblingsautoren Rabelais gehörte, desgleichen Cervantes und Edgar Allan Poe. Bei seinen Radierungen, auf denen Menschenköpfe aus Insektenleibern hervorwachsen, meint man auch Franz Kafka und dessen in einen Käfer verwandelten Gregor Samsa ausmachen zu können. Das Überbordende, das zugleich Angst einflößt, der Abscheu gegen übertriebene Selbsteinschätzung führten bei ihm zu immer noch modern, ja aktuell anmutenden Bilderfindungen. Wenn er Schlittschuhläufer porträtierte, dann spürt man das Vorbild Brueghel, aber bei Ensor bekommt das muntere Treiben zugleich etwas Abschreckendes. Angesichts der Perversitäten, die er in seinem Kampf der Teufel gegen Engel und Erzengel darstellte, erkennt man allerdings in einem Hieronymus Bosch das ihm gemäßere Vorbild. Kein Wunder, dass er sich von Dämonen verfolgt sah und das auf einem Bild darstellte, von seiner Familie, die ihm vorwarf, nicht einem vernünftigen Beruf nachzugehen, den Zeitgenossen, die seiner Kunst lange ablehnend begegneten, vor allem den Politikern und der so genannten guten Gesellschaft. Sie ist auf einem Bild mit einigen Vertretern auf einer Bank versammelt. Der Titel: Unten Pest, oben Pest, überall Pest.

Faulheit, 1904. Foto: U. Schäfer-Zerbst

Wenn er solche Szenen mit spitzer Nadel in seine Radierplatte ritzte, dann bekam das eine Schärfe, die seinen mit deftiger Farbe auf die Leinwand gemalten Szenen ein wenig abgeht, übrigens auch seinen Radierungen, wenn er sie, was er gern tat, nachträglich kolorierte. Die Ausstellung zeigt auch diese Seite seines Schaffens. So wirkt sein kolorierter Zyklus über die sieben Todsünden eher gemütlich bilderbuchhaft verglichen mit der rein schwarzweißen Version, in der man sehr viel genauer sieht, wie auf dem Bett, in dem die beiden für die Faulheit dargestellten Figuren ihr Leben verschlafen, die Schnecken herumkriechen, während ein Skelett einen Zeiger aus der Uhr reißt und wie einen Speer bedrohlich schwenkt, denn Ensor, dessen Bilder selten eindeutig zu lesen sind, verknüpft in diesem Zyklus das Thema Todsünde mit dem des Totentanzes.

Boote am Strand, 1888, Sammlung Deckers, Ostende, Foto: Steven Decroos

Vor allem zeigt die Ausstellung, was für ein grandioser Graphiker Ensor war. Mit wenigen dünnen Linien deutet er meist nur an – Wipfel von Bäumen, sich zum drohenden Gewitter formierende Wolken. Wirken seine Gemälde trotz der bunten Farben oft düster, scheint sich auf seinen schwarzweißen Graphiken die Welt dem Licht zu öffnen, vor allem bei seinen Landschaften – es sei denn, die Inhalte fordern ein Rabenschwarz wie das Thema Tod, dem er sich häufig widmete und von dem er auch seine Person nicht ausnahm. So schuf er ein Selbstporträt, auf dem sein Gesicht bereits Andeutungen von Verwesung zeigt. Und als er sich 1888 – mit achtundzwanzig Jahren – porträtierte, nannte er das Bild „Mein Porträt im Jahre 1960“; da wäre er hundert Jahre alt gewesen, und wir sehen ihn als Skelett.

James Ensor. Das druckgraphische Werk aus der Sammlung Deckers“, Kunstmuseum Reutlingen bis 25.6.2023. Katalog 168 Seiten, 20 Euro

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