Aspekte des Lebens – Junge Choreographen beim Stuttgarter Ballett

Bei vielen Großen des modernen Balletts liegen die Anfänge in Stuttgart – bei Jiří Kylián, John Neumeier oder Marco Goecke. Das ist freilich kein Zufall, denn in Stuttgart gibt die Noverre-Gesellschaft, die 1958 gegründet wurde, seit 1961 Tänzern Gelegenheit, selbst Choreographien zu kreieren und aufführen zu lassen. Inzwischen wird das unter dem Dach des Stuttgarter Balletts weitergeführt als Noverre:Junge Choreographen. Für diesen Nachwuchs besonders wichtig ist, dass Ballettchef Tamas Detrich inzwischen die Möglichkeit geschaffen hat, das nur dreimal an zwei Tagen aufgeführte Programm eine Woche lang im Internet als Stream verfügbar zu halten – für ein Publikum weltweit!

Nnamdi Christopher Nwagwu. „Abuo“. Tänzer: Riccardo Ferlito, Edoardo Sartori © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Zu Beginn stehen sie ein wenig verschämt nebeneinander, Seite an Seite, schauen sich nicht an, doch die Finger ihrer Hände sind ineinander verhakt. Dann vertreiben sie sich miteinander die Zeit, kämpfen spielerisch, tanzen, sitzen verträumt am Strand und blicken aufs Meer. In seiner neuen Choreographie Abuo hat Nnamdi Christopher Nwagwu das Aufkeimen einer Beziehung zwischen zwei jungen Männern – oder sind es noch Jugendliche? – skizziert. Das ist eine präzise Charakterisierung freundschaftlicher Nähe bis hin zu einem schüchternen flüchtigen Kuss auf die Wange. Das ist nicht eigentlich Tanz, grenzt eher schon an Szenen eines Tanztheaters, ist aber in jeder Geste minutiös den Gefühlen nachempfunden und von Riccardo Ferlito und Edoardo Sartori perfekt komödiantisch auf die Bühne gebracht.

Von den Schwierigkeiten kameradschaftlicher Nähe erzählen noch mehr Stücke an diesem Abend. In Lucyna Zwolinskas Sweet Spot umkreisen drei Tänzer einander, nicht selten in Bodennähe. Sie bewegen sich in perfekter partnerschaftlicher Symmetrie, bis einer von ihnen aus der Gemeinsamkeit ausschert und einen eigenen Weg sucht – nicht für lange, dann kehrt er wieder zurück und ein anderer versucht sein Glück. Es ist eine choreographische Metapher für das komplexe Verhältnis von Gemeinschaftlichkeit und Individualität, von Timoor Afshar, Christian Pforr und Adhonay Soares da Silva grandios in den zum Teil komplexen Bewegungsmustern realisiert, doch sehr viel mehr hat das Stück dann doch nicht zu bieten.

Sehr viel dramatischer verhält es sich da beim Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Martino Semenzato skizziert in seinem Stück 2 m2 of Skin (Zwei Quadratmeter Haut), wie die Männer versuchen, den Frauen ihren Willen aufzuzwingen, und dabei durchaus auf Gegenwehr stoßen. All das freilich bleibt weitgehend auf kleine Gesten beschränkt, und auch das Thema Verbindung bleibt zu wenig ausgeleuchtet. In den linearen Zeichnungen auf den Oberkörpern – nur rechts bei den Männern, beidseitig bei den Frauen – mag man Symbolik über Vollständigkeit und Einseitigkeit erkennen, doch bleibt das folgenlos für den Tanz.

Emanuele Babici, „Veritas vos liberat“. Tänzer: Irene Yang, Riccardo Ferlito © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Ganz anders das Auftaktstück zu diesem Abend. In weniger als einer Viertelstunde hat Emanuele Babici ein ganzes Drama komprimiert. Es geht um Gegensätze zwischen Mann und Frau, um Verbindung zwischen den Geschlechtern, um den Versuch, die Oberherrschaft zu gewinnen, bis hin zu einem gewaltsamen Tod. Am Ende siegen die Frauen, ein Happy End scheint es trotzdem nicht zu sein trotz des optimistisch klingenden Titels Veritas vos liberat (Die Wahrheit befreit euch). Das alles zu den martialisch-absurden verzerrten Klängen von Schostakowitschs 5. Sinfonie, ein kleines Meisterwerk, in dem jeder Schritt zum Ganzen beiträgt. Komprimierter ist Tanz kaum mehr denkbar.

Adrian Oldenburger. „Je ne regrette rien“. Tänzer: Priscylla Gallo, Julliane Franzoi, Satchel Tanner © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Dass es auch verspielt-heiter geht, zeigt Adrian Oldenburger. Je ne regrette rien ist sein Stück überschrieben, natürlich mit Chansons von Edith Piaf, doch nach deren „Vie en rose“ steht am Ende eben doch Bedauern. Was die junge Malerin in diesem Stück an ihrer Staffelei malt, sehen wir nicht, doch was sie sich vorstellt, wartet schon zu Beginn des Stücks schattenhaft im Hintergrund: ein Liebespaar. Das gewinnt dann Leben, wie es sich bei Malerei gehört, durch Farben, die sich die beiden auf die Körper schmieren. Als freilich die Malerin mitmachen will bei dem kleinen künstlerisch von ihr herbeigeträumten Glück, erkennt sie, dass Kunst und Leben eben doch zweierlei Dinge sind.

Bleibt die Sehnsucht – nach Liebe etwa bei Anne Jung. Hier sehnt sich in betörend dunkelblaues Licht getaucht eine Frauenfigur nach Liebe, die ihr von zwei Paaren vorgeführt wird. Es bleibt beim faszinierend imaginierten Wunschtraum; die Protagonistin bleibt einsam zurück, offenbar um Welten von dem herbeigesehnten Glück entfernt, wenn man den Titel richtig deutet: #Fivewithfive. Just a few moons away.

Und es gibt die Sehnsucht nach einem selbstbestimmten individuellen Leben. Wie Gaia, die mythische Erdmutter in der griechischen Antike tritt die Protagonistin bei Maya Popovas Earth Spell auf die Bühne. Aus einem riesigen Reifrock drängen sich Hände, Arme, bis schließlich in einem dreimaligen Geburtsakt drei weibliche Wesen auf die Bühne geworfen werden, zaghaft ihre ersten tastenden Schritte versuchen und dann immer übermütiger werden, bis sie wieder unter den mütterlichen Reifrock zurückgeholt werden müssen. Man kann das als mythische Geburtsszene deuten oder auch als Warnung: Wehe, wenn sie losgelassen.

Auch dieses Stück ist wie die Freundschaftsszene von Nnamdi Christopher Nwagwu oder die heiter-verspielte, an die Sage von Pygmalion erinnernde mit der Malerin an der Staffelei, die laut Edith Piaf nichts zu bedauern haben sollte und es doch tut, aus einem thematischen Guss, wenn auch nicht von der Tiefe und Präzision wie Emanuele Babicis Stück um die alles befreiende Wahrheit.

Der Stream des Programms, auf dem diese Kritik basiert und in dem aus musikurheberrechtlichen Gründen ein Stück des Abends nicht enthalten ist, ist bis 29.1.2023 24 Uhr on demand abrufbar.

https://www.stuttgarter-ballett.de/spielplan/kalender/noverre-junge-choreographen/5374/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert