Kunst-Welten. Graphik von Kristin Grothe im Kunstmuseum Albstadt

Für eine Radierung muss man eine Druckplatte gewissermaßen verletzen – eine Metallplatte beispielsweise mit einer scharfen Nadel ritzen oder durch Säure verätzen. Was sich nach Einfärbung der Platte in den Vertiefungen an Farbe festsetzt, erscheint dann auf dem Papierdruck als Linie oder wolkige Fläche. Felix Hollenberg, ein Meister der Radierung, hat vor hundert Jahren die zum Teil raffinierten technischen Möglichkeiten in einem Handbuch beschrieben, das freilich erst 2008 vollständig im Druck erschien. Von seinem Radierwerk befinden sich im Kunstmuseum Albstadt mehr als tausend Arbeiten. Daher verleiht das Museum seit 1992 den nach ihm benannten Preis für Druckgraphik. Die jüngste Preisträgerin Kristin Grothe führt die zum Teil raffinierten Möglichkeiten dieser Kunstform subtil weiter.

Auf den ersten Blick könnten die Radierungen von Kristin Grothe fast konventionell erscheinen. So meint man, ein traditionelles Bild einer zu Renovierungszwecken eingerüsteten Kirche in einer Altstadt zu sehen. Perfekt das Liniengewirr des Gerüsts, fast realistisch die Fassaden der umgebenden Häuser. Doch ein zweiter Blick macht deutlich: Was wie ein Gerüst wirkt, ist das Resultat rein abstrakter Darstellungsmethoden, jede Linie nichts als ein Strich.

Bei einem anderen Bild ließ sich die Künstlerin von einem Hafen inspirieren. Man meint die Schiffsmasten und Kräne erkennen zu können und sieht doch nur dünne Linien. Dennoch hatte Kristin Grothe als Inspirationsquelle für ihren Zyklus Industrien durchaus Häfen oder stillgelegte Ölraffinerien.

Für einen anderen Zyklus ließ sie sich von alten Bauwerken anregen, von Kircheninnenräumen oder alten Palästen. Man erkennt deutlich die antik anmutenden kannelierten Säulen. Doch auch hier täuscht der ersten Eindruck, denn auch hier verdankt er sich nur kleinen Assoziationsdetails. Nichts an einem so realistisch porträtiert wirkenden alten Saal ist reines Porträt. Kaum hat sich der Blick an einem solchen Detail festgesetzt, wird der Eindruck sofort irritiert. Da finden sich andere Säulen, die zu dem zunächst gesehenen „Raum“ so gar nicht passen wollen; mehr noch, man entdeckt Elemente, die man eher in der Umgebung solcher alten Paläste erwartet – Außen- und Innenräume überlagern sich plötzlich, verschmelzen zu etwas ganz anderem, was es so in der Realität, wie wir sie kennen, nicht gibt.

Immer wieder überlagert sie mehrere Drucke von unterschiedlichen Radierplatten und schafft so buchstäblich vielschichtige Welten, in denen sich verschiedene Vorlagen vereinen. Da treffen Elemente unserer modernen Lebenswelt wie Autobahnbrückenpfeiler auf fast natürlich wirkende Bergwelten. Dieses Zusammentreffen gibt es natürlich in unserer Realität, aber bei Kristin Grothe werden aus solchen Kombinationen rätselhafte Traumwelten.

Und es vereinen sich nicht nur unterschiedliche Kultur- und Lebensbereiche, es verschmelzen auch Zeiträume: alt trifft auf neu, modern auf antik. Mit dem Raumgefühl, das immer mehr ins Wanken gerät, je länger man sich auf diese Bilder einlässt, gerät auch das Zeitgefühl durcheinander. Mal meinte man, in eine moderne Großstadtstraße zu blicken, um sich gleich darauf plötzlich in einer Flucht großer moderner Großstadtbüros zu wähnen. Außenraum fließt in Innenraum und umgekehrt.

Vor allem aber stellt man sich bei längerer Betrachtung immer wieder die Frage, was man hier rein künstlerisch-technisch vor sich hat. Auf den ersten Blick traditionelle Radierungen, die allerdings das ganze Spektrum, das Altmeister Felix Hollenberg vor hundert Jahren in seinem Leitfaden zur Radierung dargelegt hat, zum Einsatz bringen, bis hin zum Schmirgelpapier, mit dem sich in der eher linearen Kunst der Radierung Flächen erzielen lassen, die wirken, als seien sie mit dem Pinsel gemalt. Schleifpapier kommt auch bei Kristin Grothe zum Einsatz, allerdings bearbeitet sie damit nicht ihre Radierplatte, sondern ihre fertigen Drucke. Dadurch wird das Papier aufgeraut. Nicht selten schneidet sie es auch ein, sodass es sich nach vorn wölbt oder die fertige Arbeit sich in lauter schmale Streifen zerlegt. So wird aus einem Porträt unserer Welt eine rein abstrakte Graphik.

Durch solche Eingriffe in das Papier verändert sich auch das Wesen des Drucks. Ist der Druck bei der Radierung traditionellerweise das Endprodukt, das allenfalls noch mit Tuschpinsel oder Kreidestift ergänzt wird, so erhält es bei Kristin Grothe einen ganz eigenen Ausdruckswert.

Wenn sie Linoldrucke herstellt, lässt sie die Farbe so lange auf das Papier einwirken, dass es sich aufzulösen und Blasen zu werfen beginnt, die bei unterschiedlicher Perspektive im Licht eine ganz eigene Farbwirkung entfalten. Das eigentliche Motiv „zeichnet“ sie dann gewissermaßen mit dem scharfen Messer ein. So verbinden sich Radierung und Scherenschnitt. Damit nicht genug. Der fertige Druck ist bei ihr nicht ein fertiges Ergebnis, sondern lediglich eine Station in einem langen Prozess, in dem die unterschiedlichsten Techniken zum Einsatz kommen – Radierung, Zeichnung, Computerdruck.

Die Arbeiten dieser Künstlerin überschreiten sämtliche bislang bekannten Grenzen dessen, was man unter Druckgraphik versteht. Aus den zweidimensionalen flächigen Drucken werden dreidimensionale abstrakte Reliefs, der Druckuntergrund, das Papier, wird selbst zum Ausdrucksträger. Es ist eine Kunst, die ganz aus dem raffinierten Zusammenspiel unterschiedlichster Techniken resultiert, ohne dass man diese Techniken im einzelnen noch ausmachen könnte. Es sind Kunst-Welten im wahrsten Sinn des Wortes.

Kristin Grothe – Raumvision. 10. Felix-Hollenberg-Preis“, Kunstmuseum Albstadt bis 14.5.2023. Katalog 60 Seiten, 15 Euro

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