Zwischen Verzweiflung und Hoffnung: Hans-Jürgen Kossacks Plastiken in der Städtischen Galerie Tuttlingen

Wir alle fallen“ dichtete Rainer Maria Rilke in seinem Herbstgedicht, und meinte mit dem Herbst sicher nicht den in Süddeutschland so begehrten „Goldenen Oktober“, sondern den November, den Monat des grauen Himmels, des Endes. Im Kirchenjahr ist es der Monat des Gedenkens, mithin auch der Monat des Todes – ein Monat der Trübsal, der Melancholie. All das kommt einem in den Sinn in einer Ausstellung der Städtischen Galerie Tuttlingen mit Werken von Hans-Jürgen Kossack.

Herbstblume, 2023. Foto: U. Schäfer-Zerbst

November hat der Bildhauer Hans-Jürgen Kossack seine neue Ausstellung in der Städtischen Galerie Tuttlingen betitelt, dabei wird man empfangen von einer Blume, allerdings einer Herbstblume. In einem riesigen Kreis an der Wand ist sie aus lauter abstrakten kleinen Gebilden zusammengesetzt, Blütenblättern, wenn man so will, freilich nicht rot wie die der Astern, oder strahlend lila wie die der Dahlie, sondern rostig-grau. Diese Blume ist verwelkt, sie lebt nicht mehr, und das gilt für vieles in dieser Ausstellung. Nicht zuletzt hat die Ausstellung eine einzige Farbe: Grau – die Farbe der Einsamkeit, Eintönigkeit, Emotionslosigkeit, des Schattens, ja des Todes.

Im Untergeschoss der Galerie hängen nebeneinander einundzwanzig kleine quaderförmige Arbeiten. Als „Reliefbilder“ bezeichnet Kossack sie, aber es sind streng genommen flache Skulpturen. Nebeltau nennt er den Zyklus, der in den Jahren seit 2015 entstand, und er wirkt in der Ausstellung wie eine Art Mustersammlung zu den übrigen Arbeiten in den Stockwerken darüber. Da finden sich beispielsweise rätselhaft durchbrochene Arbeiten, die kaum noch Material übriglassen. Im Stockwerk darüber findet sich eine ähnliche Arbeit. Sie steht mitten im Raum, ist eindeutig eine Plastik und lebt ebenfalls von den Durchblicken.

Operation A, 2017. Foto: U. Schäfer-Zerbst

Operation A nennt Kossack diese Arbeit, und in der Tat kann man sich vor dieser Arbeit der Assoziation an Zellstrukturen eines lebenden Körpers nicht erwehren, doch lebendig wirken diese Zellen nicht mehr, eher wie ein Präparat auf einer Mikroskopplatte.

Ähnlich düster sind die Assoziationen bei den meisten anderen Arbeiten. Bodenrisse heißt eine, bei der man unversehens an von der Dürre zerklüftete Erdflächen in Afrika denkt. Hier wächst nichts mehr, hier ist alles tot – so tot wie Kossacks Totholz – öde, blattlose, vertrocknete Äste auf einem Haufen, allenfalls nutzbar noch als Brennholz.

Aber hier kippen die auf den ersten Blick so düsteren Assoziationen auch schon um. Brennholz gibt Wärme – aus dem eindeutig negativen Charakter des toten Holzes wird zugleich ein Symbol des Heimeligen. Eine Arbeit, die der der Operation ähnelt, hängt an der Wand. Nun sieht man durch die Durchbrüche die weiße Wand – Ende offen heißt diese Arbeit optimistischerweise.

Kossacks Auseinandersetzung mit dem Abgestorbenen, Verwesenden, Leblosen sind nicht selten zweideutig. 7 Jahre heißt eine Arbeit. Sie besteht aus drei amorphen Gebilden, die wie Steine wirken. Verbunden sind sie mit einem Stromkabel – also doch noch Hoffnung auf Leben, auf Wiederbelebung?

Wie groß die Zweideutigkeit dieser Arbeiten sein kann, ermisst man an einem Zyklus mit dem Titel Engel und Krieger. Auf den rauen Bildtafeln erheben sich ansatzweise menschliche Figuren, bei denen man freilich einen fundamentalen Unterschied nicht unbedingt ausmachen möchte: Engel – Krieger? Selbst seine Erdwunde lässt sich trotz des Titels optimistisch deuten, denn die kleinen Astteile, die da in einem Gestein eingeschlossen sind, könnten ja noch verrotten und Humus zu neuem Leben werden. Dieser Hauch von Positivem, der in vielen dieser grauen Arbeiten zum Vorschein kommt, verdankt sich nicht zuletzt der Tatsache, dass Kossack diese Andeutungen an Tod und Vergänglichkeit in Kunstwerke überführt hat. Das gilt auch dann, wenn er sich eindeutig mit Tod und Lebensende befasst. Auch hierzu finden sich Beispiele im unteren Geschoss der Galerie.

Nebeltau, 2015/23. Foto: U. Schäfer-Zerbst

Am Ende der Nebeltau-Bilder ermöglichen zwei Arbeiten Einblicke in düstere Kammern. Es sind Grabkammern früherer Zeiten, denn in ihnen erkennt man Schädel – ohne Haut, ohne Physiognomie, nur noch Knochen. Sie finden sich im Stockwerk darüber wieder als Kopf auf einem Opferteller. Aber schon der Titel eines anderen Schädels lässt Hoffnung aufkommen: Tiefer Schlaf heißt die Arbeit.

Und noch eines hebt diese Arbeiten aus der rein negativen Sphäre des Toten, Abgestorbenen heraus. Kossack – von Haus aus Steinmetz, also mit dem Bearbeiten von Steinen vertraut – hat die meisten Arbeiten, die wie aus Stein gehauen oder aus erkalteter Lava hergestellt wirken, nicht aus Stein hergestellt, sondern aus verschiedensten Materialien, denen er auf raffinierte Weise die Anmutung von natürlich entstandenem Stein verleiht. Und was zunächst wie Grau in Grau wirkt, offenbart bei einem zweiten Blick, wieviel Farbigkeit in den verschiedenen Graunuancen liegen kann.

So setzt sich auch die Herbstblume, die den Besucher der Ausstellung empfängt, nicht aus Stahlstücken zusammen, wie man zunächst meint, sondern aus Kunststoffteilen, wie so viele anderen Arbeiten. Und noch eines: Die Herbstblume, die an Ende, Vergehen, Tod gemahnt, lässt auch Assoziationen an die Fensterrosen von Kathedralen aufkommen, den Symbolen für die Vollkommenheit, das Göttliche. Auch das kann einem im November begegnen, es ist nicht unbedingt Anlass zur Trostlosigkeit. Schließlich steht die Farbe Grau auch für Würde und Weisheit. Rilkes Herbstgedicht endet übrigens mit den Worten: „Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.“

Hans-Jürgen Kossack: November“, Städtische Galerie Tuttlingen bis 5.11.2023

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