Freud und Leid des Landlebens: Elizabeth Gaskells Frauen und Töchter

In Literaturgeschichten rangiert sie im Schatten eines Charles Dickens: Elizabeth Gaskell, auch Mrs. Gaskell genannt, die mit Romanen über die Welt der Arbeiter vor allem von sozialhistorisch engagierten Literaturkritikern geschätzt wird. Doch die Themen, die sie in Werken wie Mary Barton, einem der ersten englischen Industrieromane über den Chartistenaufstand in Manchester und die katastrophalen Lebensbedingungen des Industrieproletariats aufgriff, sind heute, trotz literarischer Qualitäten, doch eher Stoff für die Wissenschaft. Mit ihrem letzten (bis auf wenige Seiten noch von ihr vollendeten) Roman griff sie scheinbar zurück in die Provinzwelt einer Jane Austen, und doch hielt der große Literaturkritiker Laurence Lerner ihren Roman Frauen und Töchter für den unterschätztesten Roman der englischen Sprache. Vor 150 Jahren ist sie kurz vor Vollendung dieses Romans gestorben.

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Es geht fast wie im Märchen zu, und wie ein Märchen beginnt der Roman denn auch: „In einem Land gab es eine Grafschaft, und in dieser Grafschaft gab es eine Stadt, und in dieser Stadt gab es ein Haus, und in diesem Haus gab es ein Zimmer, und in diesem Zimmer gab es ein Bett, und in diesem Bett lag ein kleines Mädchen.“ Das Mädchen heißt Molly Gibson und wächst in einer geordneten Idylle in der Provinz auf, geliebt und behütet von ihrem Vater, dem Arzt Dr. Gibson, im Schatten von Cumnor Towers, zu dem die ganze Dorfgemeinschaft gesellschaftlich aufblickt und dessen adlige Führung von kaum jemandem angezweifelt wird.

Das freilich ergäbe selbst bei der geübtesten Romanschriftstellerin niemals ein Opus von über 800 Seiten, und so stellt die Autorin die Idylle gleich unter einen Schatten: Molly ist Halbwaise, ihr Vater mit den Jahren ein gestandener „Junggeselle“ geworden, von dem keiner eine neue Ehe erwartet. So könnte alles beim Alten bleiben, zumal Dr. Gibson medizinisch eine Kapazität ist und Molly bei allen Nachbarn gern gesehen. Doch als einer der medizinischen Lehrjungen im Hause Gibson Molly schöne Augen macht, sieht sich der Vater genötigt, für Ordnung im Haushalt zu sorgen, sprich: für eine neue Mutter – und damit setzen die Verwicklungen ein, die zu einem großen Roman und einem Lesevergnügen sondergleichen führen.

Elizabeth Gaskell versammelt in ihrem Roman ein Panoptikum aus realistisch porträtierten wohlmeinenden Bürgern, Heiratsschwindlern und Möchtegernaufsteigern, denen der ihnen zustehende Platz in der Gesellschaft zu gering erscheint – wie der neuen Mrs. Gibson, einer Witwe, deren bildhübsche Tochter Cynthia der Männerwelt den Kopf verdreht.

Das wäre Stoff für eine Seifenoper, wäre Elizabeth Gaskell nicht eine Meisterin der Nuancen. So zieht Molly mit ihrer allzu großen Bescheidenheit zwar von Anfang an die Sympathie des Lesers auf sich, ist jedoch gerade aufgrund dieser psychischen Disposition alles andere als geeignet, eine Romanheldin abzugeben. Dennoch schafft es die Autorin, dieses Mädchen an der Schwelle zur jungen Frau zum Zentrum des Interesses zu machen – sowohl des Lesers als auch der Provinzgesellschaft. Cynthia, die allen Romanklischees entsprechend eine eitle, arrogante Gans sein müsste, entpuppt sich nach und nach als eine junge Frau, die vor einem düsteren Geheimnis auf der Flucht ist und mehr unter ihrem Aussehen zu leiden hat als dass sie davon profitieren könnte. Die Ebene des Landadels in Cumnor Towers zeigt Arroganz ebenso wie Mitgefühl. Mrs. Gaskell betreibt keine Schwarzweißmalerei, sie differenziert, sie baut Spannungsbögen auf, die raffiniert konstruiert sind und zugleich realitätsnah wirken.

Auch wenn die Ebene der großen Armut in diesem Roman ausgespart bleibt, entfaltet er doch ein Panorama ländlicher Gesellschaft in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, das an den großen Roman Middlemarch von George Eliot erinnert. In der Tat erweist sich Mrs. Gaskell mit diesem Buch als Bindeglied zwischen einer Jane Austen des 18. Jahrhunderts und der in die Zukunft des Romans weisenden George Eliot des 19. Jahrhunderts. Wer Kritik an den sozialen Verhältnissen erwartet, dürfte enttäuscht sein, doch gerade dieses Fehlen sozialkritischen Engagements ist Teil des subtilen Realismus dieses Romans. Er klärt auf über eine Gesellschaft, in der zwar Unterschiede sozialen Rangs spürbar sind, aber wie gottgegeben hingenommen werden. Es ist eine Gesellschaft, deren Mitglieder, zumal der unteren Gesellschaftsschichten, noch frei sind von „Chimären“ wie einer politischen Meinung. Solche Sätze sind sicher von einer Autorin ironisch gemeint, die in ihren anderen Schriften vehement Partei für die Underdogs der Industriestädte ergriffen hatte, doch dürfte die leise Ironie besser zum Lebensgefühl dieser ländlichen Regionen passen als offener Sarkasmus.

Mit diesem Roman ist eine Erzählerin zu entdecken, die Sinn für Details hat, die trotz der Länge des Romans nie geschwätzig wird, deren Charakterisierungen durchzogen sind von mitfühlendem Humor und leiser, wohlmeinender Ironie. Wer am gemächlichen Gang eines Alltags Freude hat, dem jede Hektik fehlt, der jedoch auch nicht frei von psychischen Nöten und Dramatik ist, für den könnte dieser Roman ein Klassiker für lange Leseabende werden.

Elizabeth Gaskell. Frauen und Töchter. Dt. von Andrea Ott. Manesse Verlag, 872 Seiten, 26.90 Euro

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