Archiv des Autors: Dr. Rainer Zerbst

Scharfe Präzision: Der Scherenschnitt gestern und heute

Den Anfang soll eine junge Frau im antiken Griechenland gemacht haben. Weil ihr Geliebter in die Ferne ziehen sollte, zog sie die Umrisslinie des Schattens, den sein Gesicht im Lampenschein auf die Wand warf, nach. Der Schattenriss war geboren. Zur Zeit des Klassizismus, in der die Gebildeten sich gern der Antike zuwandten, war diese Anekdote sehr beliebt – und auch die Möglichkeit, Gesichter auf diese Weise naturgetreu fixieren zu können, nur nicht mehr an der Wand, sondern auf Papier: Der Schattenriss wurde zum Scherenschnitt – im 19. Jahrhundert ein populärer Zeitvertreib für junge Damen. Welche Formen diese an sich schlichte Technik annehmen kann, zeigt die Stihl Galerie in Waiblingen: Scharf geschnitten – und zwar früher und heute.

Luise Duttenhofer, Luise Duttenhofer heftet ihrem Mann Flügel an die Fersen, ab 1804. Deutsches Literaturarchiv Marbach

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Der Opernbesucher als Mitdenker: Peter Konwitschnys Zauberflöte an der Oper Stuttgart

Man kann sie als Spiel für Kinder inszenieren, als Trickfilm, als Science Fiction, oder man kann sie in die Zirkussphäre verlegen: Mozarts Zauberflöte verweigert sich kaum einem Inszenierungsstil, weil sie alles in sich birgt: Sie ist Märchenspiel und Rachedrama, Weihespiel und ein Drama um Liebesleid Liebesglück und. An der Oper Stuttgart hat Regisseur Peter Konwitschny sich nicht für einen bestimmten szenischen Ansatz entschieden, er hat die Oper in jedem Detail ernst genommen und eben ihre Vielfalt der Ausdrucksebenen auf die Bühne gebracht.

Esther Dierkes, Maria Theresa Ullrich, Stine Marie Fischer (3 Frauen)

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Die Welt als Bild – Marcus Schwier entdeckt Ravensburg

Entwickelt wurde sie im Koreakrieg – eine Fototechnik, mit der sich Landschaften auch bei geringstem Licht aufnehmen lassen. Diese Infrarotkameras zeigen uns nicht das optische Erscheinungsbild eines Gegenstandes, das uns durch die Lichtwellen zugänglich gemacht wird, sie geben die Wärmestrukturen einer Oberfläche wieder. So kann mit ihnen der Mediziner Entzündungsherde im Körper sichtbar machen, die Feuerwehr verborgene Glutnester aufspüren oder eben das Militär ein Gelände bei absoluter Dunkelheit observieren. Im Rahmen des Projekts „Fremde Blicke“ hat sich der Fotograf Marcus Schwier unter anderem auch mit dieser Technik auf den Weg gemacht, um Ravensburg zu erkunden.

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Licht-Kunst: Roger Aupperle im Forum Kunst, Rottweil

Prometheus hatte den Menschen das Feuer und damit Energie und Licht gebracht, beides aber sahen die Götter als ihr Eigentum an. Den Menschen war eine Existenz im Schattenreich zugewiesen, wie das Höhlengleichnis von Plato nahelegt. Das Resultat: Sie ließen den Missetäter an einen Felsen ketten, und dort kam jeden Tag ein Adler und fraß ihm ein Stück seiner Leber weg, die in der Nacht wieder nachwuchs. Hätte der Rottenburger Künstler in derselben Zeit gelebt, dann hätte er möglicherweise ein ähnliches Schicksal gehabt, denn Aupperle bringt zwar nicht Feuer unter die Menschen, sondern nur Licht, das aber in vielfältiger Form und seit Jahren.

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Psychodrama im Dorfmilieu: Bellinis La Sonnambula an der Oper Stuttgart

Es könnte ein Drama in einem Kitschroman aus der Alpenwelt sein, in dem der Held der Angebeteten unter Gefahr, sein Leben aufs Spiel zu setzen, einen Enzian pflückt, die Nebenbuhlerin die Heldin fast in den Tod treibt und am Ende doch alles glücklich ausgeht: Bellinis 1831 uraufgeführte Oper La Sonnambula lässt kaum ein Handlungsklischee aus, brilliert aber mit Koloraturen und hochdramatischen Ausbrüchen, die freilich erst von einer Callas wieder für die Opernbühne des 20. Jahrhunderts entdeckt wurden. Dass Jossi Wieler und Sergio Morabito, die bekannt sind für ihre genaue Lektüre der Partitur und eine fast tiefenpsychologische Auslegung der Figuren, nicht diese plakative Vordergrundhandlung auf die Bühne bringen, versteht sich von selbst.

Mirella Bunoaica (Amina), Helene Schneiderman (Teresa), Christian Tschelebiew (Alessio), Jesús León (Elvino), Catriona Smith (Lisa), Liang Li (Rodolfo), Staatsopernchor Stuttgart. Foto: Martin Sigmund

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Ein Leben in der Farbe: Karl Schmidt-Rottluff im Kunstmuseum Ravensburg

Sie wollten die neue Generation ansprechen, die Jugend und die im Akademismus erstarrte Kunst erneuern – die Künstler, die sich unter dem Namen Brücke zusammenschlossen. Das stieß auf Ablehnung, ihre Bilder wurden zum Teil angespuckt, doch letztlich hatten sie damit ihr Ziel erreicht: die Menschen aufzurütteln und zu irritieren, mit kräftigen, „unnatürlichen“ Farben, Motiven, die in der braven Bürgerwelt Anstoß erregen mussten, mit einer freien, spontanen Malweise. Der Name stammte von einem der Gründungsmitglieder, Karl Schmidt-Rottluff, der von seinem Malduktus her ganz ins Programm der Expressionisten passte und doch einen Eigenweg beschritt, wie jetzt eine Ausstellung im Kunstmuseum Ravensburg zeigt.

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Plädoyer für den Zweifel: Das 1. Evangelium von Kay Voges am Schauspiel Stuttgart

Das Abendmahl, die Fußwaschung, der Judaskuss, die Geißelung, Kreuzigung – die Passion Christi hat sich fest ins kulturelle Gedächtnis der Christen eingeprägt und das mit ganz konkreten, durch die Kunstgeschichte gefestigten Bildern – das Abendmahl durch Leonardo da Vincis Wandgemälde, die Pietá durch Michelangelos Steinplastik, die Kreuzigung durch Matthias Grünewald. Doch gibt es auch andere, unkonventionelle Bilder derselben Geschehnisse, so schuf Francis Bacon mit seinem Kreuzigungstriptychon ein Szene der körperlichen Gewalt schlechthin. Der Regisseur Kay Voges hat dieses Phänomen kultureller ikonographischer Festlegung und Offenheit zum Thema seiner Passionsgeschichte gemacht. Am Schauspiel Stuttgart inszenierte er Das 1. Evangelium, mithin also das des Matthäus.

Foto: JU

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Wehmutvolle Bilder einer besseren Welt. „Begegnungen“ beim Stuttgarter Ballett

In den USA polarisierte der Vietnamkrieg die Gesellschaft, und die Hippiebewegung suchte Liebe statt Krieg. In Deutschland revoltierten die Studenten in den späten 60er Jahren an den Universitäten gegen den Muff von tausend Jahren unter den Professorentalaren, und die RAF sorgte mit Mordanschlägen für Angst vor Terror von links. In dieser Zeit schufen zwei der renommiertesten Choreographen Ballette, die im Nachhinein wie ein Gegenentwurf zur Realität wirken. In den USA gestaltete Jerome Robbins 1969 eine Art idyllische Reminiszenz an schönere Zeiten mit seinen Dances at a Gathering und in Stuttgart präsentierte John Cranko mit seinen Initialen R.B.M.E. ein Plädoyer für Freundschaft und Kollegialität. Das Stuttgarter Ballett hat in seiner neuesten Produktion beide zu einem eigenen Abend verbunden: Begegnungen.

Jerome Robbins, Dances at the Gathering
Tänzer: Veronika Verterich, Friedemann Vogel © Stuttgarter Ballett
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Ein katholisches Signal in protestantischen Landen: Der Meister von Meßkirch in der Staatsgalerie Stuttgart

Sie haben berühmte Kunstwerke geschaffen und sind doch unbekannt, jene mittelalterlichen Maler, die nach ihren Hauptwerken benannt werden, als „Meister“ etwa „des Aachener Altars“. Kein Wunder, galten Maler im Mittelalter doch nicht als Künstler, gar als Genies, sondern als Handwerker, signierten daher ihre Werke nicht und haben mit ihnen doch einen festen Platz in der Kunstgeschichte, wie etwa der Meister von Meßkirch, benannt nach seinem Hauptwerk, der Ausgestaltung der Martinskirche in Meßkirch. Die Staatsgalerie Stuttgart widmet ihm nun eine große, in deren Zentrum der Bilderschmuck von St. Martin steht, kein leichtes Unterfangen, denn die Bildtafeln befinden sich mit Ausnahme des großen Dreikönigsbildes längst nicht mehr an ihrem ursprünglichen Ort.

Die Anbetung der Heiligen Drei Könige, Meßkirch, Pfarrkirche © Erzbischöfliches Ordinariat Freiburg i. Br., Aufnahme: Michael Eckmann

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Nicht nur illustriert – Picassos Kunstbücher in Göppingen

In der Regel führen sie ein Nischendasein, dabei müsste ihnen eigentlich ein großes Publikum sicher sein: Bücher, die von Künstlern gestaltet wurden, denn selten ist das Spektrum eines Genres, um nicht gleich von einer Kunstgattung zu reden, derart groß wie in dem Fall, da sich ein Künstler dem eigentlich dem Lesen vorbehaltenen Kommunikationsmedium widmet. Das konnte, wie jahrhundertelang kultiviert, in Form von Illustrationen geschehen, das konnte in eigenen Texten bestehen, die mit Bildern versehen wurden, das konnten auch ganz eigene Buchformen sein, wie es die Dadaisten und nach ihnen die Künstler des Fluxus praktizierten. Dennoch sucht man Künstlerbücher in Museen oft vergebens. Die Kunsthalle Göppingen zeigt nun Künstlerbücher eines Mannes, der vielen als Inbegriff des Künstlers des 20. Jahrhunderts schlechthin gilt, Pablo Picasso.

 

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