Archiv der Kategorie: Rezensionen

Brüssel, wie es sein könnte. Robert Menasses Roman Die Hauptstadt

Brauchte Robert Menasse Walter Hallstein in seinem Europaroman? Sicher, würde der Romancier wohl antworten, schließlich plädiere er für ein starkes Europa, in dem die nationalen Grenzen möglichst abgebaut werden sollten, ein nachnationales Europa, und Walter Hallstein, der Präsident der ersten Kommission der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, hatte sich für die Entwicklung europäischer Institutionen stark gemacht, und also führte er den Politiker in seinem Roman als Referenzinstanz ein, ohne sich allerdings nennenswert um die historischen Fakten zu kümmern. Über dem darüber entstandenen publizistischen Aufstand geriet sein Roman fast ins Hintertreffen, dabei hätte Menasse sich diesen Ärger sparen können.

Robert Menasse. Die Hauptstadt. Suhrkamp Verlag

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Wiederentdeckt: Zwischen Realität und Fiktion: Colm Tóibíns Roman über Henry James

Er hatte mit seiner Mozart-Biographie einen Klassiker der Mozartliteratur geschrieben, der in über zwei Dutzend Sprachen übersetzt wurde, und doch behauptete Wolfgang Hildesheimer danach kategorisch, eine perfekte Biographie könne man über einen Menschen, der tatsächlich gelebt habe, nicht schreiben. Und so schrieb er nach dem „biographischen Essay“ über das musikalische Wunderkind eine „Biographie“, in der alle Figuren rund um den Protagonisten gelebt haben, nur der „Titelheld“ nicht: Marbot. Dies kommt einem in den Sinn, wenn man das Buch des Iren Colm Tóibín zur Hand nimmt, in dem er den großen Romancier Henry James porträtiert, nicht in einer Biographie, sondern in einem 2005 erschienenen Roman.

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Beklemmende Welt im Biedermeiergewand. Karen Duves Roman über die junge Annette von Droste-Hülshoff

Ihr genügten Kleinigkeiten – Blätter, Farben, Töne, und Annette von Droste Hülshoff entdeckte in ihnen Geheimnisse. In der Natur und der Landschaft, zumal der ihrer westfälischen Heimat, suchte sie nicht ihr eigenes Ich, vielmehr spürte sie dem Eigenleben der Welt nach und entdeckte immer wieder tiefere Zusammenhänge. Im Alltag war die stets kränkelnde Annette nicht so feinfühlig. So weigerte sie sich, ihrem Onkel Werner von Haxthausen ihren ersten Gedichtband zuzusenden, denn er würde ja doch alles nur niedermachen, „dass es kein Schwein fressen sollte“, und den Schreibstil eines Kunsthistorikers verglich sie mit den „sieben mageren Kühen des Pharaos“. Lag es daran, dass sie nie geheiratet hat, weil sie die Männer abschreckte, oder steckt hinter dieser Ehelosigkeit ein tieferes Geheimnis? Das deutet Karen Duve in ihrem neuen Roman an.

Karen Duve. Fräulein Nettes kurzer Sommer. Roman. Galiani Verlag Berlin. 592 Seiten

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Ein Märchen um König Fußball: J. L. Carrs Buch Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten

Dass ein Zwerg einen Riesen besiegen kann, ist spätestens seit der Geschichte von David und Goliath Standardmotiv so mancher Märchen. Und Märchen werden auch in der Welt, in der wir leben, wahr. So geschehen 2008 in Deutschland. Da stieg der Fußballverein einer 3000-Seelen-Gemeinde in die Bundesliga auf. Zugegeben: es hatte der Unterstützung eines millionenschweren Unternehmers bedurft, aber die Sensation war perfekt: Die TSG Hoffenheim schreibt Fußballgeschichte. Dass ein solches Märchen auch in einem Dorf wahr werden kann, hat J.L.Carr 1975 in einem schmalen Bändchen geschildert. Und dieser Fußballmannschaft gelang nicht nur der Aufstieg in die englische Liga, sie errang sogar den Finalsieg im Wembley Stadion und damit den Englischen Pokal.

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Das Wunder des Alltags: J. L. Carrs Monat auf dem Land

Homer ließ seinen Helden quer über das Mittelmeer segeln, mit Riesen kämpfen, sich gegen verführerische Frauen zur Wehr setzen und von einer Zauberin bezirzen lassen. Dafür brauchte er mehrere hundert Seiten. Ungleich mehr, knapp tausend Seiten, benötigte Thomas Mann einzig mit der Schilderung dessen, was ein junger Mann über mehrere Jahre hinweg in einem Lungensanatorium erlebt. Literatur braucht keine großen Inhalte, sie kommt mit der Schilderung einiger Kleinigkeiten aus. Das gilt auch für die Bücher von J. L. Carr, die Titel wie Ein Tag im Sommer oder Ein Monat auf dem Land tragen. Trotzdem waren sie erfolgreich, der Monat wurde sogar mit Schauspielern vom Rang eines Colin Firth und Kenneth Branagh verfilmt. Nur in Deutschland suchte man seine Bücher bislang vergebens. Jetzt ist der Monat auf dem Land auf deutsch erschienen – mit fast vierzigjähriger Verspätung.

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Philosophisch verbrämt: E. O. Chirovicis Buch der Spiegel

Ein Blick auf die Rezensionsseiten unserer Zeitungen lässt die Geburt eines Meisterromanciers vermuten. Da erkennt man – zumal in den deutschen Feuilletons – Anklänge an einen Marcel Proust, da werden Verwandtschaftslinien zum großen Nabokov gezogen. Dabei ist E.O. Chirovici kein Newcomer; in seiner rumänischen Heimat hat er bereits einige Romane verfasst, jetzt hat er, der seit 2012 in den USA lebt, seinen ersten Roman in englischer Sprache geschrieben und in ihm selbst die Fährten in Richtung dieser beiden Autoren gelegt, denn zum einen ist sein Roman perspektivisch durchaus raffiniert konstruiert, da mag man an einen Nabokov denken, zum zweiten spielt er in den letzten Zeilen seines Romans selbst an den großen Meister der literarischen Erinnerung an.

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Der Alltag als Kunst: Ein Schriftsteller erkundet die Kunsthalle Göppingen

Mit einer Günther Uecker-Ausstellung fing es an, das Leben der Kunsthalle Göppingen, anno 1989 in einer Stadt, in der Kunst bis dahin allenfalls im Foyer der Stadthalle zu sehen war. Seither gibt es also einen eigenen Kunsttempel, wenn auch in einer Gegend, in der man derlei nicht unbedingt suchen mag. Doch der Ort entwickelte Leben, Kunst von heute, Avantgarde, oft noch ehe eine documenta in Kassel auf einen Künstler aufmerksam wurde. Nun konnte auch noch ein Literaturstipendium eingerichtet werden, benannt nach einem Dichter, der Göppingen nie zu Gesicht bekommen hat: Rainer Maria Rilke, und der erste Stipendiat, Kai Bleifuss, widmete sich in einem Buch sinnigerweise dem Genius loci, der Kunsthalle, wenn auch nicht der Kunst.

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Freud und Leid des Landlebens: Elizabeth Gaskells Frauen und Töchter

In Literaturgeschichten rangiert sie im Schatten eines Charles Dickens: Elizabeth Gaskell, auch Mrs. Gaskell genannt, die mit Romanen über die Welt der Arbeiter vor allem von sozialhistorisch engagierten Literaturkritikern geschätzt wird. Doch die Themen, die sie in Werken wie Mary Barton, einem der ersten englischen Industrieromane über den Chartistenaufstand in Manchester und die katastrophalen Lebensbedingungen des Industrieproletariats aufgriff, sind heute, trotz literarischer Qualitäten, doch eher Stoff für die Wissenschaft. Mit ihrem letzten (bis auf wenige Seiten noch von ihr vollendeten) Roman griff sie scheinbar zurück in die Provinzwelt einer Jane Austen, und doch hielt der große Literaturkritiker Laurence Lerner ihren Roman Frauen und Töchter für den unterschätztesten Roman der englischen Sprache. Vor 150 Jahren ist sie kurz vor Vollendung dieses Romans gestorben.

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Trau schau wem! Ein Krimi mit philosophischem Hintergrund von Paula Hawkins

Ein Tag wie jeder andere: Rachel fährt mit dem Zug zur Arbeit, vorbei an den Wohnsiedlungen entlang den Bahngleisen, und beobachtet dabei tagaus, tagein ein Ehepaar. Die beiden machen auf sie einen sympathischen Eindruck, und in ihrer alltäglichen Langeweile auf dem Weg zur und von der Arbeit denkt sie sich für die beiden Gestalten, die sie sieht, aber nicht hört, Biographien aus: Geschichten eines Ehepaares, sie nennt die beiden Jess und Jason. Das könnte der Anfang eines Romans über eine werdende Schriftstellerin sein, die am Ende aus dem Alltag erfolgreiche Literatur bastelt. Und genau dieser Wechsel von „könnte sein“ und „ist es nicht“ bestimmt den Fortgang dieses Buches, der beginnt wie das Psychogramm einer gescheiterten jungen Frau im Großstadtdschungel von London.

Girl on the TrainDu kennst sie nicht aber sie kennt dich von Paula Hawkins

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