Lebendige Farben – drei Künstler, ein Grundmotiv in der Galerie Schlichtenmaier

Als Kasimir Malewitsch 1913 der Öffentlichkeit sein Schwarzes Quadrat präsentierte, sorgte er für eine Sensation – für Malewitsch „die Empfindung der Gegenstandslosigkeit“. Damit verwies er auf die Reaktion des Betrachters. Dass Farbfläche nicht einfach nur eine Fläche sein muss, macht eine Ausstellung in der Galerie Schlichtenmaier in Dätzingen augenfällig: „Binnenstrukturen“.

Eine blaue Fläche malte Lothar Quinte 1999, und er gab im Titel dem Betrachter denn auch gleich einen Hinweis, worauf es ihm bei diesem Bild ankam: auf die Farbe Blau, so wie er im selben Jahr, ein Jahr vor seinem Tod, ein Bild Die Farbe Rot nannte. Doch was heißt das? Ein monochromes Bild, wie es Kasimir Malewitsch im Jahr 1913 mit seinem revolutionären schwarzen Quadrat der Kunstwelt vorsetzte, ist es nicht. Sein Rot changiert in feinsten Nuancen. Alles ist Rot, aber wo man hinsieht, entdeckt man ein anderes Rot, wenn auch ein sehr verwandtes. Was wie eine schlichte Fläche wirkt – rote Farbe auf Leinwand eben – entpuppt sich als aufregendes Spiel vor den Augen des Betrachters, das sich in dessen Augen fortsetzt. Die rote Farbfläche wird zum Geheimnis, allein durch malerische Mittel. Dieses Geheimnis hat Quinte immer wieder, vielleicht sogar sein ganzes künstlerisches Leben lang beschäftigt. In den 60er Jahren trat er mit „Schlitzbildern“ an die Öffentlichkeit. Da könnte man an einen Lucio Fontana denken, der mit einem Messer seine Bildflächen aufschnitt. Doch der Schlitz, der sich auf diesen Bildern von Quinte zeigt, ist nur Schein. Man meint, durch eine große Farbfläche hindurchsehen zu können, doch was sich hinter dieser Fläche für Welten auftun mögen, erkennt man nicht. Es ist schlicht, was der Bildtitel andeutet – ein Bild mit einem scheinbaren, weil nur gemalten Schlitz.

Dass dabei auch die genaue, fast geometrische Gestaltung eine Rolle spielte und in den Folgejahren immer wichtiger wurde, ist ein zweiter Aspekt dieser Kunst, denn auch dieser „symmetrische“ Aufbau ist Täuschung: Bei genauem Hinsehen entpuppt sich die so klare Struktur nicht selten als Illusion – man muss nur genau hinsehen, die „Binnenstrukturen“ beachten, wie der Ausstellungstitel nahelegt. Die geometrische Strenge ist – ähnlich subtil fein wie die Farbe Rot auf dem Bild von 1999 – in sich variiert, also alles andere als rein symmetrisch. Malerei als Abenteuer für das Auge. Auf seinem Spiegelbild Blau brachte Quinte beides zur Synthese: unterschiedliche Nuancen einer einzigen Farbe und exakten geometrischen Bildaufbau.

Und auch sein eingangs erwähntes blaues Bild ist alles andere als einfach nur blau. Raumfarbe Blau lautet der ganze Titel, und in der Tat meint man, es wölbe sich wie ein flaches Kissen nach vorn. Quinte muss eine Unzahl von Farbschichten auf die Leinwand aufgetragen haben, um diesen Eindruck erzielen zu können. Auf einem Aquarell in der Ausstellung kann man sehen, wie solche Schichten nach und nach übereinandergelegt wurden und eine ganz eigene Welt bilden: Man kann dem Aufbau eines optischen Geheimnisses beiwohnen. 

Auch bei Rolf Gunter Dienst scheint alles ganz schlicht und einfach. Auch er arbeitet mit Farbflächen. Mal bestehen ganze Bilder aus einer Farbe – ein rechteckiges ganz in Rot im Querformat, ein anderes im Längsformat ganz in Blau. Auf anderen Bildern arbeitete er mit Farbstreifen, mal breiteren, mal dünnen, sodass dem Auge schon aus der Ferne ein Flimmern suggeriert wird. Dieses Flimmern wird bei seinen Bildern umso intensiver, je näher man mit dem Auge an die Farbflächen rückt. Dienst unterlegte seine Bilder mit einer Art Schrift. Es sind keine identifizierbaren und also lesbaren Buchstaben, eher Schriftkürzel, aber damit eindeutig Handschrift. Was wie eine aseptisch neutrale Farbfläche aussieht, entpuppt sich als subtil geformte Malerei mit Pinsel und Farbe. Dabei ist keineswegs auszumachen, ob die Schriftkürzel den Farbschichten „unter“-legt sind oder über die Farbfläche gezeichnet wurden. Entscheidend ist, dass sie da sind – und das Wesen seiner Bilder bestimmen. Es gibt auch Arbeiten, in denen er ganz ohne Farbflächen auskommt, Bildflächen, die nur aus solchen Schriftkürzeln bestehen. Das ist malerisches Leben pur. Auf diese Weise entwickeln die Farbflächen von Rolf Gunter Dienst ähnliche Lebendigkeit wie die von Lothar Quinte, ohne dass beide Maler auch nur ansatzweise verwandte Malweisen einsetzten. 

Dass Farbe, ja Farbfläche bei einem Bildhauer ebenfalls eine zentrale Rolle spielen kann, zeigen die Arbeiten von Reiner Seliger. Er gestaltet oftmals „Bilder“ als Relief bzw. Farbflächen aus lauter Einzelstücken, ob es nun Glas ist – grün transparent, im Licht jeweils anders leuchtend, oder schwarz lackiert –, ob es Tafelkreidestücke sind, die er in einem Bildrahmen zu einer flachen Plastik verarbeitet oder das Material, das klassischerweise dem Bildhauer als Ausgangsmaterial dient – Marmor.

Aber Seliger gestaltet seine Arbeiten nicht wie ein Bildhauer üblicherweise aus einem ganzen Materialblock heraus. Vielmehr setzt er seine Arbeiten aus Bruchstücken zusammen. Lange bevor der Begriff „Upcycling“ in Mode kam, hat er diese „Aufwertung“ von Abfallelementen – Marmorbruch, Kreidestücken, Glassplittern – zum Grundelement seiner bildhauerischen Arbeiten genommen, und stets spielt die Farbe – wie bei Quinte und bei Dienst – eine zentrale Rolle. So heißen seine Arbeiten nicht selten nach den verwendeten Farben – little big blue, Piccolo Rosso  – und wie bei Quinte und bei Dienst spielt auch bei Seliger die Geometrie eine zentrale Rolle. So heißt eine Arbeit Sesto Nero (Schwarzer Spitzbogen), der in Wirklichkeit nicht einfach nur ein Bogen, sondern eine in sich vollständige Rundplastik ist.

Auch hier liefert ein Künstler dem Auge Material zum Spielen und Nachdenken, und auch hier spielen Farbflächen eine wesentliche Rolle – Farbflächen, die scheinbar in sich ruhend sind und doch zeigen, was Kunst ausmacht: dem Material Leben einhauchen.

Binnenstrukturen / Lothar Quinte – Rolf Gunter Dienst – Reiner Seliger“, Galerie Schlichtenmaier, Dätzingen, bis 18.11.2023

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