Nerven, Muskeln und ätherische Ästhetik: „Kammerballette“ in Stuttgart

Was geschieht im menschlichen Gehirn, wenn man Musik hört – eine Frage, die für jeden Choreographen von Interesse sein dürfte, schließlich entsteht in der Regel in der Auseinandersetzung mit musikalischen Reizen der schöpferische Prozess, in dem Bewegungen und Bewegungsmuster für die Tänzer entwickelt werden. Insofern war es ein raffinierter Einfall von Katarzyna Kozielska, in einem Labor ein Elektroenzephalogramm von sich aufzeichnen zu lassen, das ihre Gehirnströme unter Muskeinfluss festhielt. Dem choreographischen Resultat dieses Experiments gab sie den Titel „Neurons“, auch das sehr sinnvoll, schließlich sind Neuronen die elementaren Bestandteile unseres gesamten Nervensystems und damit verantwortlich für sämtliche Prozesse des Lebens, also auch für den Tanz.

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Foto: Roman Novitzky (C) Stuttgarter Ballett

So hat sich Katarzyna Kozielska für ihre Tänzer von Thomas Lempertz Trikots gestalten lassen, deren Muster den Neuronen unter dem Mikroskop ähnlich sind. Die Bewegungen der Tänzer wirken über weite Strecken wie fremdgesteuert; sie scheinen nicht selten ohne eigene Persönlichkeit – finden aber mit traumwandlerischer Sicherheit immer wieder zu sinnvollen Interaktionen mit ihren Partnern. Es entsteht gewissermaßen ein funktionierender Organismus.

Je nach Frequenz unterscheidet die Wissenschaft unterschiedliche „Aktionsgrade“ der Nervenzellen: Deltawellen mit der geringsten Aktivität finden sich in unserer Tiefschlafphase, Thetawellen und Alphawellen treten bei zunehmender Wachheit auf, Gammawellen prägen intensive Lernphasen, also konzentrierte Wachheit – entsprechend hat Katarzyna Kozielska für ihre Tänzer Soli und Pas de deux von unterschiedlicher Dynamik entwickelt. Und weil sie sich ganz auf das Modell des Schlafs konzentriert, entsteht eine Art Nocturne, ein Nachtstück in dunkelgrauem Ambiente. Die Minimal Music eines John Adams eignet sich dafür vorzüglich, denn auch die Aktivität der Neuronen beschränkt sich auf ähnliche Impulse. Die Musik löst in Katarzyna Kozielskas „Neurons“ ein Tanzgeschehen aus, das sich aus lauter kleinen Elementen zusammensetzt; erst im Verein mit allen Tänzern ergibt sich eine sinnvolle Interaktion.

Wozu sich die Choreographin dafür allerdings in ein Labor zum Selbstversuch begeben musste, bleibt unerfindlich, denn die verschiedenen Wellenbereiche kann man in jedem Wikipedia-Artikel über Nervenzellen nachlesen, und die Beschränkung auf nächtliche Gehirnaktivitäten schränkt das Ausdrucksspektrum dieser Choreographie doch allzu sehr ein. Zwar gelingt es Katarzyna Kozielska, die immer noch als Tänzerin aktiv ist, das klassische Bewegungsrepertoire durch kleine Anomalien aufzubrechen – Spitzentanz gleitet gelegentlich über in ganz normales alltägliches Gehen, was wie eine traditionelle Hebung aussieht, wird konterkariert durch ungewöhnliche Fußhaltungen – , aber mehr als eine gefällige Nachtszene ist am Ende nicht herausgekommen. Fast scheint es, als habe Katarzyna Kozielska beweisen wollen, was im Gehirn einer Tänzerin und Choregraphin abläuft, wenn es auf Musikimpulse trifft: Es werden sattsam bekannte Bewegungsmuster abgerufen mit gelegentlichen Variationen. Das ist an einem Abend neben Choreographien eines Hans van Manen und Glen Tetley zu wenig.

Dabei wurde mit dem 1969 entstandenen Stück „Arena“ nicht einmal Tetleys stärkstes Stück ausgewählt – allerdings ein Kontrastprogramm zu der Legatochoreographie von Katarzyna Kozielska. Tetley führt vor, was Gehirnwellen auch vermögen – nicht ästhetisches Wohlgefallen, sondern wütende Aggressivität. Bei ihm werden Stühle über die Bühne geworfen, messen sich Männer im stilisierten Zweikampf, der auf raffinierte Weise zwischen klassischem Ballett und muskulösem Ringkampf angesiedelt ist. Bedenkt man das Entstehungsjahr dieser Arbeit, dann kann man ermessen, wie aufreizend sie gewirkt haben mochte, und noch heute zieht der rein körperliche Kraftausdruck mancher Szenen in seinen Bann.

Tetley arbeitet nicht nur mit dem Kontrast zwischen klassisch-modernem Tanz und alltäglichen Kraftritualen, er spielt auch mit der Kunstgeschichte, zumal der körperbetonten. Immer wieder verharren die Körper der sechs Tänzer in klassischen Posen, inspiriert von antiken Kriegerplastiken und Höhepunkten der Kunst eines

Arena Chr. Glen Tetley Tänzer/dancers: Jason Reilly, Daniel Camargo, Constantine Allen (C) Stuttgarter Ballett

Tänzer: Jason Reilly, Daniel Camargo, Constantine Allen. (C) Stuttgarter Ballett

Michelangelos, dessen Pietà ebenso anklingt wie die Begegnung zwischen Gott und Adam. Auch der Kreuzestod Christi mag Inspirationsquelle gewesen sein, denn die Männerkörper zeigen durchweg stilisierte Wundmale auf.

Doch bleibt dieses Stück allzu sehr im Ausdrucksspektrum des im Titel angedeuteten Kampfplatzes, und die geballte Virilität der rund dreißig Minuten gerät nicht selten zum Leerlauf.

Auf Leerlauf scheint es der zweite Altmeister des Abends, Hans van Manen, geradezu abgezielt zu haben. Zu Beginn betreten seine Tänzer die Bühne, als stünde eine Ballettprobe auf dem Plan. Alle haben einen Hocker dabei, auf dem sie ihren Tanzkollegen bei deren „Tanzübungen“ zusehen können. Doch während Tetleys „Arena“ allzu oft im realistischen Bereich der Kraftmeierei verbleibt, entsteht bei van Manen in jeder Sekunde Tanz. Auch van Manen kommt vom klassischen Tanz – und für seine Probensituation, die er hier auf der Bühne entwickelt hat, eignen sich Scarlattis Cembalosonaten vorzüglich, waren sie doch in der Regel als Übungsstücke für seine Schülerin konzipiert. Van Manen entwickelt in einer halben Stunde ein faszinierendes Wechselspiel zwischen klassischen Tanzschritten und -posen und alltäglicher Probenpraxis.

Kammerballett Chr. Hans van Manen Tänzer/Dancers: Martí Fernandez Paixa, Alicia Amatriain, Jason Reilly, Pablo von Sternenfels, Daniel Camargo, Anna Osadcenko (C) Stuttgarter Ballett

Tänzer: Martí Fernandez Paixa, Alicia Amatriain, Jason Reilly, Pablo von Sternenfels, Daniel Camargo, Anna Osadcenko (C) Stuttgarter Ballett

Die Hocker, die zunächst als reine Sitzgelegenheit fungieren, gehen mit den Körpern der Tänzer eine Einheit ein: Die Tänzer lehnen sich mit steifem Körper gegen sie und bilden ein geometrisches Bild aus lauter Linien auf der Bühne. Das läuft alles präzise ab wie ein Uhrwerk – und bleibt doch nie ohne emotionalen Ausdruck. Da lösen sich aus der Gruppe Einzeltänzer, bilden sich Paare; aus den Tanzschritten entwickeln sich Charaktere: die sich als Star gerierende Solotänzerin trumpft mit stolzer Geste auf, Liebesbeziehungen deuten sich an – um doch immer wieder in die präzise Geometrie dieser herrlich schwerelos wirkenden Choreographie zu münden. „Geht hin und lernt mit so wenigen Mitteln so große Wirkungen hervorzubringen“ soll Beethoven über Händel gesagt haben – Hans van Manen ist der unerreichte Meister eines Minimalismus an äußerem Geschehen und eines Maximums an tänzerischer Substanz. Das ist kein „Kammerballett“, wie er seine Arbeit 1995 nannte, das ist große Tanzkunst.

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