Und ewig lockt … Verführung als Inbegriff des Tanzes am Stuttgarter Ballett

Es gilt als das Buch der Verführung schlechthin, das Kamasutra (deutsch Verse des Verlangens), und Verführung ist das Wesen der Erotik. Doch Verführung birgt auch Gefahren, sie macht widerstandslos, besteht ihr Ziel doch darin, das Gegenüber von seinem eigentlichen Weg abzuführen. Folgerichtig sah der Soziologe Max Weber in der Verführung eine Form der Machtausübung und damit der Herrschaft. Verführung hat ein Janusgesicht – und genau dieses Doppelspiel führt ein neuer Abend beim Stuttgarter Ballett in vier Facetten vor.

Tänzer/dancers: Friedemann Vogel, Ensemble © Carlos Quezada

Ein Tänzer steht auf einem roten Podest. Um ihn herum in drei Reihen drei Dutzend Verehrer – vielleicht sind es auch Schüler, angehende Tänzer, denn der Mann auf dem Podest gibt gewissermaßen eine Schulstunde in Sachen Tanz: Bolero. Es beginnt mit einer Hand. Grell ist sie angestrahlt, sie wandert in die Höhe und fährt in der Mitte des Körpers wieder hinab. Dasselbe folgt mit der anderen Hand, dann mit beiden Händen, bis der Körper des Tänzers durch das den Händen folgende Licht gewissermaßen vorgestellt ist – und darum geht es in diesem Stück: Hatte das Ballett traditionell von der Bewegung gelebt, so entdeckte das 20. Jahrhundert den reinen Körper als Ausdrucksmittel. Genau das hat Maurice Béjart 1961 zum Zentrum seines Stücks erhoben. Tanz entsteht in seiner Choreographie zu Maurice Ravels Bolero ganz aus dem Körper heraus, und das übt eine derartige Faszination aus, dass die anfangs auf den Stühlen sitzenden Zuschauer auf der Bühne nacheinander selbst zum Tanz animiert werden. Das ist eine Apotheose des Tanzes, das ist aber auch ein Stück über die Verführung durch den Tanz: Die Umsitzenden folgen den lockenden Bewegungen des Vortänzers, bis sie eine einzige Gefolgschaft dieses Mannes sind. Das ist auch Tanz als eine Möglichkeit, anderen einen fremden Willen aufzuzwingen.

 Alicia Amatriain, Fabio Adorisio © Carlos Quezada

Damit wäre Verführung Entführung – weg vom eigenen Ich, hin zur fremden Macht. Genau das bringt Katarzyna Kozielska in ihrer neuen Choreographie auf die Bühne: Dark Glow. Sie beginnt mit der Faszination, die glückliche Verbindungen ausstrahlen, sei es in Form eines Paares, sei es in Gestalt einer in sich zufrieden wirkenden Gruppe. Diesen Formationen setzt sie eine Einzelne entgegen, eine Außenseiterin, die sich schon tänzerisch als solche zu erkennen gibt. Zwar strebt auch sie die eher klassischen Tanzbewegungen an, die die beiden Formationen pflegen, doch werden bei ihr die Bewegungen immer wieder verfremdet, durchbrochen von Abspreizungen, Unregelmäßigkeiten, die sich freilich nach und nach geben. Das ist Verführung zur Eingliederung. Doch einmal in der Gruppe aufgegangen, ist man allzu leicht in Gefahr, das Eigene zugunsten des Gruppenverhaltens aufzugeben.

Bei Kozielska zielt alles auf Unterwerfung ab, Unterwerfung unter eine fremde Macht – sei sie politische Herrschaft, sei sie Ideologie, verkörpert durch eine große Lichtmaschine, die sich vom Himmel herabsenkt und aussieht wie eine große Lampe in einem Operationssaal. Das ist Symbol einer fremden Macht von außen, die alles unter ihren Einfluss bringen will und auch bringt. Das Paar bleibt davon noch eine Zeitlang unbeeinflusst, bis auch hier der Mann sich dem Einheitswillen der Gruppe unterwirft, sein Trikot durch den schwarzen Überhang ersetzt, der die Einheitskleidung der Gruppe geworden ist. Ob sich die Frau als einzige dem Verhalten der Lemminge entziehen kann, bleibt offen, ist aber fraglich, denn kurz bevor das Licht ausgeht, läuft auch sie in Richtung Masse.

Das ist logisch konsequent, kommt allerdings erst spät zur eigentlichen Aussage. Bis dahin ist diese Choreographie gelegentlich etwas allzu harmlos.

Das lässt sich von Sidi Larbi Cherkaouis Arbeit aus dem Jahr 2009 nicht sagen. Wählte sich 1961 Béjart ein kurzes Stück des Impressionisten Ravel als Musik, so nahm sich Cherkaloui ein noch kürzeres von dessen Kollegen Debussy: Nachmittag eines Fauns. 1912 hatte der legendäre Vaslav Nijinsky eine Choreographie aus der Taufe gehoben, die mit ihrer unverhohlenen sexuellen Ausstrahlung zum Skandal wurde, dabei war der Inhalt noch vergleichsweise harmlos: Ein Faun ist fasziniert von sieben Nymphen, nähert sich einer von ihnen, die dabei ihren Schleier verliert, und dieser Schleier wird für den Faun zum Ersatzobjekt für den sexuellen Akt.

Bei Cherkaoui findet Anziehung, Verführung und Vereinigung zwischen den beiden Figuren statt. Dabei gelingt es ihm, das erotische Geschehen unschuldig erscheinen zu lassen. Seine Akteure sind nämlich nicht Mann und Frau, sondern Wesen zwischen Tier und Mensch. Cherkaoui bringt Verführung und Anziehung gewissermaßen als rein naturhafte Phänomene auf die Bühne, zudem noch frei von allen kulturellen Grenzen, denn er lässt Debussys schwelgerische Musik zwei Mal durch Klänge des Engländers Nitin Sawhney unterbrechen, der mit den Klangmöglichkeiten von heute Paraphrasen auf Debussys Faunmusik kreierte, die eher im arabischen Raum angesiedelt scheinen als im französischen (Cherkaoui ist flämisch-marokkanischer Abstammung): Verführung als grenzüberschreitendes Phänomen alles Lebendigen.

Dass der legendäre Nijinsky noch ein zweites Mal Pate stand für einen Abend, der sich der Verführung widmet, ist nur konsequent, gilt er doch als der Inbegriff für perfekte Tanzkunst sowie für die Erotisierung des Balletts. Mit Spectre de la Rose choreographierte Michel Fokine 1911 für den Tanzstar ein Stück, das inhaltlich ähnlich reduziert ist wie der Nachmittag eines Fauns. Nach einem Ball schläft die Debütantin zuhause in einem Sessel ein und erlebt im Traum mit dem Geist der Rose ein großes emotionales Abenteuer.

Agnes Su, Adam Russell-Jones
© Carlos Quezada

2009 schuf Marco Goecke für das Ballett in Monte Carlo (dem Uraufführungsort von Fokines Choreographie) eine ganz andere Version. Er verzichtet auf die Rahmengeschichte und verzichtet vor allem auf den Tanz im herkömmlichen Verständnis. Noch ehe die Musik einsetzt, schwirren bei ihm die Figuren mit extrem kurzen schnellen vibrierenden Bewegungen der Arme und Hände durch den Raum. Es ist von Anfang an ein typischer Goecke mit dem von ihm entwickelten Bewegungsrepertoire; typisch Goecke ist auch, dass er die Musik zunächst nicht braucht. Wenn dann Carl Maria von Webers Einladung zum Tanz ertönt, halten die Figuren erst einmal inne. Aber Goecke macht auf subtile Weise deutlich, dass es in ihnen gärt, dass die Bewegung, sogar der klassische Walzer, der bei ihm nicht offen nicht zutage tritt, gewissermaßen in den Körpern schwelt. Hatte Béjart mit seinem Bolero den Tanz gewissermaßen aus dem Körper heraus entwickelt, zeigt Goecke, dass der Tanz im Körper steckt. Es wird kein Dreivierteltakt getanzt, und doch scheint der Walzer in jeder Sekunde auf der Bühne da zu sein, nicht real, sondern latent. Hier verführt der Tanz (in Form der Musik) den Körper.

So ist Reid Anderson, dem Direktor des Stuttgarter Balletts, wieder einmal wie in den letzten Jahren immer wieder das Kunststück gelungen, aus vier höchst disparaten Arbeiten von vier sehr unterschiedlichen Choreographen einen Abend wie aus einem Guss zu gestalten. Auch das trägt zur Verführung des Publikums bei.

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